Blutspuren
muß, wie er den Leichnam mit dem Fahrrad zum Versteck am Lottenbach transportiert haben will, versagen an einer Wegsteigung seine Kräfte. Dieser banale Umstand ist Ausgangspunkt für weitere nervenzehrende Vernehmungen, die Sebastians Stabilität zusehends schwinden lassen. Kurz darauf gibt er sein bisheriges Verhaltenskonzept scheinbar auf. Er bekennt, den Mord zusammen mit dem Freund seiner Mutter, Helmut Hellriegel, begangen zu haben: »Ich habe ihm die Schlinge um den Hals geworfen, Helmut hat die Leiter weggezogen. Danach haben wir die Leiche am Lottenbach verschwinden lassen.«
Warum er erst jetzt mit der Wahrheit herausrücke, wollen die Kriminalisten wissen. »Ich wollte Helmut nicht verraten«, rechtfertigt er sich.
Postwendend wird Hellriegel zugeführt, befragt und verhaftet. Da der 24jährige im Zusammenhang mit seinen Vorstrafen bereits Erfahrung mit polizeilichen Vernehmungen gemacht hat, vermuten die Untersucher, daß er vehement leugnen wird. Doch wider Erwarten gesteht er schon in der ersten Beschuldigtenvernehmung, an der Ermordung Karl Hempels und an der Beseitigung seiner Leiche beteiligt gewesen zu sein: »Sebastian und ich waren es, ganz allein!« Er übernimmt sogar die Hauptschuld für die mörderische Aktion: »Ich habe den Alten erdrosselt, als er über die Leiter auf den Oberboden wollte, während Sebastian lediglich die Leiter wegzog.«
Obwohl Helmut Hellriegel, wie sich noch herausstellt, wenigstens hinsichtlich seines eigenen Tatbeitrages die Wahrheit sagt, muß er sich in den Vernehmungen wochenlang gegen den Vorwurf wehren, der Mord müsse sich anders abgespielt haben. Er weiß nämlich nicht, daß Sebastian eine ganz andere Tatbeteiligung schildert. Und Sebastian wiederum hat keine Ahnung davon, daß Hellriegel in Haft ist. Auf diese Weise treten bei jeder Exploration weitere Widersprüche hervor. Erneute Vernehmungen, Aussageüberprüfungen und Ermittlungen folgen. Die Geduld der Untersucher wird so auf eine harte Probe gestellt.
Am 17. Oktober 1968, vormittags. Sebastian wird Hellriegel gegenübergestellt. Auge in Auge müssen sie zu ihren sich widersprechenden Aussagen Stellung nehmen. Mit Erfolg. Während Hellriegel dabei bleibt, auf dem Oberboden stehend das Seil um Karl Hempels Hals geschlungen zu haben, korrigiert Sebastian seine früheren Angaben. Aber nur insofern, daß nicht seine, sondern Helmut Hellriegels Aussage der Wahrheit entspräche, indes sein Tatbeitrag darin bestand, gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Uli die Leiter wegzustoßen. Dann fügt er hinzu: Die drei hätten unter dem Siegel größter Verschwiegenheit ausgemacht, den Vater zu erledigen, um ihn dann verschwinden zu lassen. Und er beschwört: Von all dem wisse die Mutter nichts.
Daß Sebastian unversehens den 13jährigen Uli als weiteren Mittäter ins mörderische Spiel bringt, verdrießt die Kriminalisten. Wenn nämlich diese Behauptung zutrifft, hat sich auch Uli an dem Mord aktiv beteiligt. Um dies zu überprüfen, wird der Junge zugeführt. Aber er ist ein Kind, darf nicht beschuldigt und förmlich vernommen werden, denn »Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind, sind strafunmündig und daher strafrechtlich nicht verantwortlich«, heißt es im Gesetz. Nur eine sogenannte Anhörung ist erlaubt, und die darf üblicherweise nur im Beisein eines Erziehungsberechtigten stattfinden.
Erfolgreiche Taktik setzt gründliche Planung voraus. Deshalb beraten sich die Morduntersucher, gründlich und ohne Eile. Die Weisheit des Kollektivs produziert schließlich ein ausgeklügeltes Frageprogramm, nach dem Uli Hempel gehört werden soll.
Am 17. Oktober werden Rosi und ihr Sohn Uli freundlich, aber mit Nachdruck zum VP-Kreisamt gebracht, wo in einem Büro der Mordkommission das schwierige Gespräch mit dem Jungen stattfinden soll. Zur Sicherheit, und um zu vermeiden, daß die anwesende Mutter weder verbal noch durch Gesten in das Geschehen eingreifen kann, ist auch ein Vertreter der Abteilung Jugendhilfe erschienen, der jede ihrer Regungen kritisch verfolgen soll. Die Beteiligten werden entsprechend plaziert.
Mehrere Stunden dauert das erzwungene Interview. Anfangs druckst der Junge herum, ist wortkarg und ängstlich. Hilflos sucht er immer wieder den Blickkontakt zu seiner Mutter. Vergeblich. Doch die Art, wie der Vernehmer mit ihm umgeht, löst schrittweise die innere Verklemmtheit. Bald beginnt Uli zu reden. Erst stockend und zaghaft, dann immer flüssiger, bis es aus ihm heraussprudelt wie aus einer
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