Blutspuren
Problem, hält ihre Besorgnis für unbegründet, speist sie mit der üblichen Hinhaltetaktik ab, verweist sie aber wenigstens an die VP-Inspektion unweit des Senefelder Platzes: Sie solle mit einer Vermißtenanzeige noch bis zum Abend warten, weil nach polizeilicher Erfahrung sich die Mehrzahl der vermißten Kinder nach einigen Stunden von selbst wieder einfindet. Frau Vollmer fühlt sich unverstanden. Zerknirscht eilt sie weiter.
In der Schule herrscht ungewöhnliche Stille. Nur im Vorzimmer des Direktors klappert eine Schreibmaschine. Die Sekretärin macht Überstunden. Sie ist völlig ahnungslos, kann Frau Vollmers Besorgnis nicht mindern, ermöglicht aber einen Anruf bei Carmens Klassenlehrerin, die glücklicherweise ein eigenes Telefon besitzt. Deren Auskunft bestätigt aber nur, Carmen war zum heutigen Unterricht nicht erschienen.
Frau Vollmer hetzt nach Hause. Verzweiflung hämmert hinter ihren Schläfen. Der Gatte, vom Frühdienst zurück, und die Oma beschäftigen unbeholfen und gereizt die kleinen Gäste. Ohne das Geburtstagskind ist die Stimmung fade und verkrampft, von quälender Ungewißheit überschattet. Kurzer Gedankenaustausch zwischen den Erwachsenen und die Party wird aufgelöst. Verständnislos und enttäuscht ziehen die Kinder davon.
Die Eltern suchen gewissenhaft Boden und Keller ihres Wohnhauses ab, streifen wie Spürhunde im Wohngebiet umher, um eine Witterung ihres Kindes aufzunehmen, indes die Oma zu Hause die Stellung hält und auf den glücklichen Umstand hofft, Carmen würde bald heimkehren. So verfliegen die Stunden. Aber das Mädchen scheint wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Kein Signal, kein Hinweis – keine Hoffnung. Der Gedanke an das Schlimmste treibt die besorgten Eltern in den späten Abendstunden schließlich zur Polizei. Ein Uniformierter nimmt mit bürokratischem Ernst, aber geringer kriminalistischer Sachkunde die Vermißtenmeldung und eine grobe Personenbeschreibung Carmens entgegen. Auch er versucht, die Eltern auf die bekannte Weise zu besänftigen: »Wer weiß, was ihre Tochter veranlaßte, abzuhauen. Wenn sie friert oder Hunger hat, weiß sie schon, wo ihr Zuhause ist. Spätestens morgen. Glauben Sie mir, wir haben damit Erfahrung! Und sollte sie trotzdem morgen früh noch nicht zu Hause sein, kommen Sie wieder, dann kümmert sich die Kriminalpolizei um die Angelegenheit.«
Folgerichtig bleibt der polizeiliche Aufwand spärlich und halbherzig, beschränkt sich auf die Weitergabe der Personalien und Personenbeschreibung an die Funkwagen und die im Wohngebiet diensttuenden Streifen.
Quälende Ungewißheit und lähmende Hilflosigkeit lassen Mutter, Vater und Großmutter nicht schlafen.
Mittwoch, der 29. März 1972. »Kein Hinweis auf den Verbleib des vermißten Kindes«, heißt es im morgendlichen Lagebericht des Kriminaldienstes. Kurz vor 8.00 Uhr erscheint das Ehepaar Vollmer in der VP-Inspektion Prenzlauer Berg, übernächtigt und gereizt. Sie haben ein Foto ihrer Tochter mitgebracht. Bereits der Polizist am Einlaß verweist sie an die Kriminalpolizei in eine der oberen Etagen, wo sie ein ernst aussehender, rotblonder Endvierziger im grauen Anzug empfängt: »Oberleutnant Steingräber, ich bin der für Vermißtenfälle zuständige Sachbearbeiter.«
Er führt mit den Eltern ein langes, geduldiges Gespräch und macht dabei unentwegt Notizen. Sie übergeben ihm für Fahndungszwecke ein Foto ihres kleinen Mädchens. Neben der Ergänzung ihrer Angaben von gestern Abend will er vor allem Carmens Persönlichkeit, aber auch die Schul- und Familiensituation ergründen. Mögliche Konfliktstoffe sind auszuschließen, die für Ausreißer typisch sind. Auch übliche Tagesabläufe, Wegstrecken, bevorzugte Plätze und Gebäude sind Gegenstand seiner Neugierde. Was der Kriminalist wissen will, verrät Ernsthaftigkeit und Präzision. Mitunter werden Vollmers verlegen, weil sie die richtigen Antworten auf die vielen spitzfindigen Fragen nicht immer parat haben. Erinnerungsvermögen und Beurteilungsfähigkeit werden herausgefordert, vor allem dann, wenn Steingräber scheinbar nebensächliche Dinge anspricht. Wer kann denn auf Anhieb die Schuhe seines Kindes beschreiben, die Blutgruppe nennen oder den Inhalt der Schultasche aufzählen? So schwierig manche Antwort für die Eltern auch sein mag, dieser Mann besitzt ihr Vertrauen, der respektiert ihre Sorgen, der zeigt Bemühen.
Besonders interessiert sich Steingräber für Vollmers Angehörige, Freunde und Bekannte, aber auch jene
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