Blutspuren
Personen, zu denen Carmen sonst noch eine starke Bindung besitzen könnte. Eine ziemlich lange Liste mit Namen und Anschriften entsteht.
Beiläufig nennen Carmens Eltern dabei auch den Namen Gerhard Lischka. Obgleich sie beteuern, daß er nicht mehr zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zählt, weil sie bereits vor Monaten den Kontakt zu ihm abgebrochen zu haben, ist dies für Steingräber allerdings keine Veranlassung, den Namen nicht auf die Liste zu setzen.
Abschließend informiert er Vollmers über das polizeiliche Vorgehen, auch darüber, daß das Präsidium am Alexanderplatz die weiteren Ermittlungen führen wird: Die Möglichkeit eines Verbrechens darf nicht leichtfertig außer acht gelassen werden. Das Argument überzeugt die Eltern, obwohl es ihre Gemütsverfassung zusätzlich erschüttert.
Dann telefoniert der Kriminalist mit dem Leiter der Mordkommission. Es geht um die Abstimmung polizeilicher Maßnahmen. Vollmers schlußfolgern, daß die Polizei die Sache nun ernstnimmt.
Steingräber erkennt die Fassungslosigkeit der Eltern und beruhigt sie, ohne falsche Hoffnungen zu wecken: »Bleiben Sie weiterhin kooperativ. Ich weiß ebensowenig wie Sie, was mit Carmen geschehen ist. Aber mit Ihrer Hilfe und unseren Möglichkeiten werden wir es herausfinden!« Dann schließt er das Gespräch ab und sagt: »Halten Sie sich heute Nachmittag bereit, der Leiter der Mordkommission wird Sie besuchen!«
Wortlos und wie in Trance kehren Carmens Eltern nach Hause zurück. Jetzt wagen sie kein offenes Gespräch, unterdrücken lieber das Unvorstellbare. Doch in ihren Hirnen kreisen unentwegt die quälenden Bilder, ihrem Mädchen könne etwas Grauenvolles passiert sein. Verzweifelt klammern sie sich an die schwache Hoffnung, Carmen dennoch bald wieder in die Arme schließen zu können. Tatsächlich aber schmilzt diese Hoffnung mit jeder weiteren Stunde dahin wie Schnee in der Sonne.
Wie angekündigt, findet sich am Nachmittag der Chef der Mordkommission, Hauptmann Kroll (38), ein freundlich wirkender mittelgroßer Typ mit dunklem, gewelltem Haar, bei der Familie Vollmer ein. In seiner Begleitung zwei weitere Männer in Zivil: der sommersprossige Oberleutnant Meinicke, ebensoalt wie Kroll, und dessen Stellvertreter sowie Oberleutnant Wischnewski (39), Kriminaltechniker der Kommission, virtuoser Spurensucher und Kettenraucher.
Das Erscheinen des kompetenten Trios deuten Vollmers als ein wichtiges Indiz für den Ernst der Lage: Ruhig und sachlich–kühl erläutert Hauptmann Kroll den verzweifelten Eltern, daß die Fahndung im gesamten Gebiet der Hauptstadt inzwischen auf Hochtouren läuft. Doch er verhehlt auch nicht, die Möglichkeit eines Verbrechens in Betracht zu ziehen: »Seit gestern früh ist Ihr kleines Mädchen spurlos verschwunden. Unsere bisherigen Ermittlungen verliefen erfolglos. Sie müssen jetzt mit dem Schlimmsten rechnen!«
Das trifft Carmens Eltern erneut wie ein Hammerschlag. Kroll gibt ihnen jedoch keine Gelegenheit für traurige Tiefsinnigkeit. Unentwegt redet er auf sie ein, erläutert weitschweifig das laufende und künftige polizeiliche Vorgehen, bis er Vollmers davon überzeugt hat, in Carmens Zimmer nach Spuren suchen zu lassen, die eine spätere Identifizierung erleichtern. Auf seinen diskreten Wink hin verschwinden Meinicke und Wischnewski im Kinderzimmer, während er sich mit den Eltern und der Neustrelitzer Oma zu einem längeren Gespräch in die Wohnstube zurückzieht. Er will unendlich viel über Carmen, ihre Familie, Verwandte, Bekannte und Nachbarn wissen. So auch über Gerhard Lischka, den in sich gekehrten, freundlichen Mann, zu dem vermeintlich seit Monaten kein Kontakt mehr besteht.
Unterdessen ist man in Carmens Zimmer emsig bei der Sache: Meinicke durchsucht den Inhalt des Kleiderschrankes, des kleinen Bücherregals, der Spielzeugkisten und Tischschubladen in der vagen Hoffnung, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der Carmens Verschwinden erklären könnte. Vergeblich, nirgends ein Hinweis. Wischnewski ist indes erfolgreicher. Er sichert mehrere blonde Haare vom Kopfkissen des Kinderbetts, nimmt Fingerabdrücke von einer neben dem Bett stehenden, halbvollen »Club-Cola«-Flasche und fertigt von Carmens Schlafanzug eine sogenannte Geruchskonserve.
Als die drei Kriminalisten nach einer reichlichen Stunde das Haus des großen Kummers verlassen, wendet sich Kroll noch einmal an die Eltern: »Sollten die Routinebefragungen in Carmens sozialem Umfeld und die Suchaktionen bis morgen
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