Blutspuren
nichts erbringen, leiten wir ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein. Wir klären die Angelegenheit Ihrer Tochter. Versprochen! Auch wenn Sie Carmen nicht mehr wieder …«
Vollmer unterbricht ihn schroff, als fürchte er sich vor dem Ende des letzten Satzes und fleht: »Ich weiß, aber bringen Sie uns bald Gewißheit!«
Donnerstag vormittag, am 30. März 1972, Lagebesprechung in der Mordkommission im VP-Präsidium am Alexanderplatz. Nach der offiziellen Vernehmung des Ehepaars Vollmer werten Kroll und seine Männer die bisherigen Ermittlungsergebnisse in der Vermißtensache aus. Die Protokolle über die Befragungen, Hundeeinsätze und Suchaktionen stapeln sich in einer dicken Akte. Die meisten davon sind wenig sachdienlich, bieten nicht den geringsten Anhalt für weitere Recherchen. Andere wiederum wecken zunächst Hoffnung, erweisen sich jedoch bei weiterer Prüfung als Folge von Irrtum oder Prahlerei. Fest steht: Wenn ein neunjähriges Kind seit drei Tagen ohne jeden erkennbaren Grund spurlos verschwunden ist, rechtfertigt dies den Verdacht eines Verbrechens. Folglich entschließt sich Kroll zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt. Die Frage »Fremdtäter oder Beziehungstäter?«, die gewöhnlich die Verfahrensdauer beeinflußt, läßt sich in dieser Untersuchungsphase natürlich nicht beantworten. Deshalb richten sich die Kriminalisten vorsorglich auf eine langwierige Untersuchung ein. Sie diskutieren über die Versionen möglicher Hintergründe für das Verschwinden des Kindes und planen das weitere Vorgehen. Verantwortlichkeiten werden festgelegt. Kroll entschließt sich, weitere Kräfte anzufordern und diese am nächsten Morgen in ihre Aufgaben einzuweisen. Bis dahin muß Meinicke einen Untersuchungsplan ausarbeiten. Die Routineüberprüfung mehrerer hundert vorbestrafter Sexualtäter ist unumgänglich und verlangt Präzision. Ab morgen wird die Hektik Einzug in die Räume der Mordkommission halten. Die Ruhe des heutigen Tages allerdings will Hauptmann Kroll noch nutzen, sich höchstpersönlich im Nachbarhaus der Familie Vollmer auf »Klingeltour« zu begeben. Vielleicht hat doch jemand das Mädchen gesehen. Am meisten jedoch interessiert er sich für Gerhard Lischka, dessen alte Strafakte er bereits gründlich studiert hat.
Als er wenig später seinen schwarzen Ledermantel mit dem Webpelzeinsatz überstreift und meint: »Ich fahre jetzt zur Prenzlauer Allee, danach zur Kaderabteilung im Transformatorenwerk. Das Alibi von dem Lischka läßt mir keine Ruhe«, gibt Wischnewski ihm noch eine wichtige Information mit auf den Weg: »Frag ihn auch nach seinen Klamotten, die er am Achtundzwanzigsten getragen hat, vielleicht sind Carmens Spuren dran!«
Hauptmann Kroll muß die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, der Pkw der Mordkommission wird anderswo dringender benötigt. Eigentlich rechnet er damit, daß die Auskünfte in Lischkas Wohnhaus mager sein werden, will aber sein Gewissen beruhigen. Die Vermutung bestätigt sich: Viele Bewohner arbeiten tagsüber, sind folglich gar nicht zu Hause. Die anderen, meist Rentner und Hausfrauen, wissen nichts. Er klingelt Sturm an Lischkas Wohnungstür. Vergeblich. Ein Nachbar bremst seinen Eifer: »Der is uff Arbeit, kommt erst spät zurück!« Na ja, Kriminalistenschicksal. Kroll zieht unverrichteterdinge ab. Jetzt treibt es ihn nach Oberschöneweide.
Bereitwillig übergibt ihm eine Mitarbeiterin der Kaderabteilung des Transformatorenwerkes die Personalakte Gerhard Lischkas zur Einsicht. Kroll vertieft sich eine Zeitlang darin, macht Notizen. Dann will er Lischka sprechen. Kein Problem. Die Dame ist dem Vertreter der Staatsmacht behilflich: Ein Raum in der Wache des Betriebsschutzes eignet sich für eine Befragung. Lischka wird dorthin bestellt.
Hauptmann Kroll wartet fast eine Viertelstunde. Gerhard Lischka betritt in blauer Arbeitskombi den Raum. Kroll reicht ihm die Hand und weist sich aus. Dabei mustert er den jungen Mann mit geübtem Blick. Dessen blasses Gesicht mit den unruhigen Augen und die zitternden, schweißigen Hände verraten höchste Anspannung.
»Lischka, Gerhard«, stellt dieser sich vor, »was gibt’s denn?«
»Ich hab ein paar Fragen an Sie, reine Routine«, erklärt Kroll und beginnt: »Sie kennen doch die Familie Vollmer?«
Lischka nickt, gibt sich gleichgültig, doch hinter seinen Schläfen trommelt die Erregung.
»Wann haben Sie Carmen Vollmer zuletzt gesehen?« fragt Kroll weiter.
Lischkas blasses Gesicht errötet
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