Blutspuren
Steinigen, Verschütten bis zum elektrischen Stuhl. In manchen Ländern sind die Exekutionen immer noch wie im Mittelalter ein öffentliches Spektakel. Ein moderner Staat jedoch muß sich auch danach beurteilen lassen, wie er mit seinen Schwerverbrechern umgeht. Sie zu liquidieren offenbart offizielle Hilflosigkeit und findet allenfalls Zustimmung bei jenen, die Rache üben wollen.
Gegner der Todesstrafe zu sein und für einen humanen Strafvollzug einzutreten bedeutet allerdings auch, dem Schutz der Gesellschaft durch strenge und sichere Verwahrung der Schwerverbrecher absolute Priorität zukommen zu lassen. Selbst unter Juristen, Kriminalisten und Forensikern der DDR gab es entschiedene Gegner der Todesstrafe. Doch eine offene Polemik konnte nicht stattfinden. Sie wäre durch die Obrigkeit als Affront gegen die Arbeiter- und Bauernmacht mißdeutet worden.
Im Strafprozeß gegen Henry Stutzbach wird angesichts des humanistischen Anspruchs der DDR und der, wenn auch im Verborgenen bestehenden, Ablehnung der Todesstrafe der ganze Widersinn deutlich: Es bemühten sich Sachverständige redlich um eine objektive Aufklärung, ob beim Angeklagten eine Psychopathie mit oder ohne Krankheitswert vorlag, weil davon der Grad strafrechtlicher Verantwortlichkeit und letztlich das Leben des Delinquenten abhing. Sie mußten damit rechnen, daß es dabei nicht um die Frage einer Freiheitsstrafe mit oder ohne psychotherapeutische Begleitung ging, sondern letztlich um ihre Beihilfe für die gerichtliche Entscheidung zum Ausspruch eines Todesurteils. Welche Frustrationen müssen angesichts dieser Tatsache entstanden sein, wenn die Sachverständigen heimliche Gegner der Todesstrafe waren und sie so zwischen die Mühlen ihres Gewissens und ihrer Pflicht zu objektiver Befunderhebung gerieten?
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Das Haus am Friedhof
(Aktenzeichen BI 22/65 Bezirksstaatsanwalt Dresden Tagebuchnummer 1143/65 VPKA Görlitz)
Überall im Land haben die Schüler acht lange Wochen Sommerferien. So auch die elfjährige Rosemarie Busch aus der Finstertorstraße in der Kreisstadt Görlitz. Der Jahresurlaub ihrer Eltern ist längst aufgebraucht, die gemeinsame Zeit in der Familie damit vorüber. Erst im August fährt sie an die Müritz ins Ferienlager. Doch bis dahin ist sie sich tagsüber selbst überlassen. Der Vater schuftet bei der Städtischen Müllabfuhr, die Mutter steht in einem optischen Betrieb am Band. Beide kehren erst am späten Nachmittag heim. Und Rosemaries 15 jähriger Bruder Christian vertreibt sich die Zeit mit gleichaltrigen Kumpels, und dabei sind kleine Mädchen unerwünscht.
Es ist Dienstag, der 20. Juli 1965, gegen 9.00 Uhr, ein sonniger Morgen. Rosemarie ist längst auf den Beinen. Die Eltern haben schon vor Stunden das Haus verlassen. Christian liegt immer noch in den Federn. Er ist ein Langschläfer. Doch er hat versprochen, sie am Nachmittag zum Kulturpark Weinberg mitzunehmen, in dessen Nähe sich das große Freibad befindet. Das trifft sich gut, denn am Vormittag hat sie etwas Wichtiges vor: Sie ist nämlich mit einem Mann verabredet, der am Steinweg wohnt und ihr großzügig eine ganze Tasche voll leerer Flaschen überlassen will. Rosemarie hat in ihrem Kiez schon eine beachtliche Menge Altstoffe gesammelt und dadurch ihr Taschengeld aufgebessert. Sie weiß, wie lukrativ ihre Bemühung sein kann. Denn für jede Flasche, ob groß oder klein, berappt die Annahmestelle fünf Pfennig und für ein Kilogramm gebündeltes Altpapier sogar zehn. Die meisten Leute in der Nachbarschaft kennen die kleine Sammlerin aus der Finstertorstraße. Manche legen deshalb ihre alten Zeitungen und leeren Flaschen sogar vor ihren Wohnungstüren für sie bereit. Bevor Rosemarie mit der großen grünweiß gestreiften Tasche die Wohnung verläßt, weckt sie Christian und flüstert ihm ins Ohr: »Ich geh zum Steinweg Flaschen holen, es dauert nicht lange!«
Der Bruder knurrt verschlafen »ist gut«, dreht sich auf die andere Seite und schläft weiter. Dies wird sein letzter Wortwechsel mit der kleinen Schwester sein.
VPKA Görlitz, am Morgen 23. Juli 1965. Im Speisesaal sind zivile und uniformierte Männer versammelt. Eine außerordentliche Einsatzbesprechung ist angesagt. Grund: Suchaktion zum Auffinden eines verschwundenen Kindes. In den Morgenstunden des 21. Juli 1965 meldete nämlich der 35 jährige Arbeiter Hans-Dieter Busch aus der Finstertorstraße beim zuständigen ABV seine
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