Blutspuren
darüber!« Ansonsten ist Henry Stutzbach normal intelligent, ausgestattet mit verhältnismäßig gutem Allgemeinwissen.
In einem fünfzigseitigen Gutachten gelangen die Experten zu dem Schluß, daß »… trotz des Charakters der Delikte, aber sehr wohl auf Grund ihrer Planung und Motivierung, der besonderen Tatumstände, der Durchführung sowie Absicherung, noch dazu bei Berücksichtigung des Zeitfaktors und des Rechtsverständnisses, wie auch der vorhandenen allseitigen Orientierung und Erinnerungsfähigkeit des Täters, kein Krankheitswert zur Zeit der Tat festzustellen …« war.
Mit anderen Worten: Stutzbach ist zwar ein hochgradig jähzorniger, unbeherrschter, explosiver Psychopath, aber kein Psychotiker. Folglich ist er strafrechtlich voll verantwortlich.
Anfang der 90er Jahre geriet das psychiatrische Haftkrankenhaus Waldheim ins Fadenkreuz eines smarten Sensationsjournalismus, der diese Einrichtung als »Stasi-Folterklinik« beschrieb. Damit setzte eine allgemeine Pressekampagne ein, die sich lüstern der Frage zuwandte, ob es in der DDR, ähnlich wie in der Sowjetunion und in Rumänien, einen systematischen Mißbrauch der Psychiatrie insbesondere zur Unterdrückung politisch mißliebiger Personen gegeben hat. Ein Schauermärchen nach dem anderen erregte die öffentlichen Gemüter. Die Kolportagen fanden einen fruchtbaren Boden im allgemeinen Mißtrauen vieler Bürger gegen die Psychiatrie, ihre Diagnostik und Therapie – ein Phänomen, das keineswegs nur auf die DDR beschränkt werden darf und durch eine weltweite Antipsychiatriebewegung zusätzlich gefördert wird.
Kompetente Untersuchungskommissionen wurden in die Spur geschickt, doch ihre Suche nach den psychiatrischen Foltereinrichtungen verlief ergebnislos. Dank ihrer mehrjährigen Arbeit an diesem Thema konnte geklärt werden, daß es, wie es in einem Abschlußbericht des Jahres 1995 heißt, »eine politisch motivierte Zwangspsychiatrie von gesunden Dissidenten, wie sie in den siebziger Jahren als ›politischer Mißbrauch der Psychiatrie‹ aus der Sowjetunion bekannt geworden ist, in der DDR und insbesondere in deren Hauptstadt Berlin (Ost) nicht gegeben hat«. Ausgenommen von dieser Feststellung sind Einzelfälle ungesetzlicher Übergriffe, wie Verstöße gegen die ärztliche Schweigepflicht oder die Verletzung pflegerischer Pflichten, die, nebenbei bemerkt, überall in der Welt vorkommen können.
Die Psychiatrie in der DDR unterschied sich in Diagnostik und Therapie nicht von der in der Bundesrepublik. Selbst im Rahmen der sogenannten Zwangseinweisungen waren die Eingriffsvoraussetzungen gleich. Auf einen Unterschied ist jedoch zu verweisen: In der DDR lag die Entscheidung über die Zwangseinweisung eines psychisch Kranken in der Kompetenz des Facharztes für Psychiatrie, in der Bundesrepublik (und das ist auch gegenwärtige Rechtspraxis) in der des Richters.
Zeitgleich mit der Anklageerhebung bestellt das Berliner Stadtgericht den bekannten Rechtsanwalt Dr. Friedrich Wolff zum Pflichtverteidiger für Henry Stutzbach. Der späte Auftrag stellt nichts Ungewöhnliches dar. Nach § 64 der StPO (DDR) ist der Verteidiger grundsätzlich erst nach Abschluß der Ermittlungen befugt, Einsicht in die Strafakten zu nehmen. Freilich wäre dem Gesetz nach auch während des Ermittlungsprozesses eine Einbeziehung möglich. Jedoch gibt es eine wichtige rechtliche Einschränkung: Im laufenden Ermittlungsverfahren ist dem Rechtsanwalt Akteneinsicht nur dann möglich, »wenn dies ohne Gefährdung der Untersuchung« geschieht. In der Praxis der Verteidigung erweist sich die auf dem Papier zugesicherte Möglichkeit jedoch regelmäßig als Trugbild. Denn die Entscheidung darüber, ob der Gang der Untersuchung gefährdet werden könnte, fällt gemäß § 64 Abs. 2 StPO der DDR das Untersuchungsorgan nach eigenem taktischen, aber auch politischem Ermessen. In der Regel kann deshalb der Verteidiger erst nach Abschluß der Ermittlungen tätig werden.
Dr. Wolff hat angesichts der bevorstehenden Hauptverhandlung nicht allzu viel Zeit für eine ausgiebige Prozeßvorbereitung. Allerdings führt ein weiterer Suizidversuch seines Mandanten zu einem unerwarteten Terminaufschub. Stutzbach hatte sich in der Untersuchungshaft die Pulsadern aufgeschnitten. Als das Wachpersonal ihn fand, hatte er bereits so viel Blut verloren, daß er für einige Zeit stationär behandelt werden mußte. Den Zeitgewinn nutzt der Rechtsanwalt für intensive Studien der neurologischen und
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