Blutspuren
psychiatrischen Fachliteratur. Auf Grund der bizarren Tatbegehung und des persönlichen Eindrucks von seinem Mandanten, bezweifelt er dessen volle strafrechtliche Verantwortlichkeit und formuliert Einwände gegen das Gutachten des Psychiatrischen Haftkrankenhauses Waldheim. Seine Kritik richtet sich sowohl gegen die seiner Ansicht nach unzureichende Diagnostik als auch gegen die ärztliche Bewertung, bei Henry Stutzbach liege nur eine Psychopathie ohne Krankheitswert vor. Er verweist auf die in der Fachwelt bestehende Diskussion über das Verhältnis von krankheitswertiger Psychopathie und Psychose. Danach ist es bei psychopathischen Persönlichkeiten unter bestimmten, seltenen Bedingungen durchaus möglich, eine verminderte strafrechtliche Verantwortlichkeit anzuerkennen. Liegen in Stutzbachs abnormer Persönlichkeit und seinen absonderlichen Morden nicht etwa solche Bedingungen vor? Könnte also für ihn ein solcher Ausnahmefall gelten? Könnte er gar an einer Psychose leiden? Um jeden Zweifel auszuschließen, beantragt der Verteidiger ein gerichtspsychiatrisches Zweitgutachten.
Das Gericht folgt den Argumenten des Verteidigers. Es bestellt den Ärztlichen Direktor des renommierten Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie zur Erstattung eines weiteren forensischen Gutachtens. Erneut muß Henry Stutzbach die diversen diagnostischen Verfahren und Explorationen über sich ergehen lassen. Doch sein Verteidiger mobilisiert Bereitschaft und Kooperation. Es besteht nämlich durchaus die vage Hoffnung, daß der neue Sachverständige den tatbezogenen psychischen Zustand des Angeklagten Stutzbach für krankheitswertig hält. Und wenn das so wäre, könnte das sein Leben retten. Anderenfalls droht ihm bei der Schwere der Verbrechen die Todesstrafe. Aber die Hoffnung erfüllt sich nicht. Der Sachverständige bestätigt die bisherigen psychiatrischen Feststellungen und kann weder an den diagnostischen Methoden des Haftkrankenhauses für Psychiatrie Waldheim noch an den Schlußfolgerungen einen Makel erkennen: Alle Untersuchungen entsprachen dem modernen Standard forensisch-psychiatrischer Begutachtung. Auch das Ergebnis, bei Stutzbach läge eine Psychopathie ohne Krankheitswert vor, sei nicht zu beanstanden.
In seinem mündlichen Vortrag in der Hauptverhandlung geht der Sachverständige besonders auf die strengen Maßstäbe ein, die an die qualitative Bestimmung des Krankheitswertes angelegt werden müssen: »… Bei einer Psychopathie kann hauptsächlich dann von einem Krankheitswert gesprochen werden, wenn eindeutige wahnhafte Reaktionen oder Entwicklungen sich gleichsam aufpfropfen, ferner, wenn bei starker Erregbarkeit Ausnahmezustände mit einer starken Einengung des Bewußtseins auftreten. Dieselbe ist gekennzeichnet durch elementare, verbale und motorische Entäußerung, durch ein Fehlen gezielter Überlegungen und Gegenüberlegungen, außerdem durch eine fast vollständige Amnesie nach Abklingen des Ausnahmezustandes …«
Keines der geforderten Kriterien liegt beim Angeklagten vor: Als er nämlich seine beiden Geliebten tötete, handelte er kühl überlegend und zeigte auch danach keine Beeinträchtigung seiner hellwachen Rationalität. Er geriet erst dann in stark explodierende, das Bewußtsein einengende Affekte, nachdem er seine Ehefrau getötet hatte. Diese überschießenden Reaktionen versetzten ihn in einen Zustand des Blutrausches. Doch genau dieser Teil des Tatgeschehens ist für eine strafrechtliche Bewertung nicht von Belang.
So findet auch der zweite Gutachter bei Henry Stutzbach im Zusammenhang mit der vorsätzlichen Tötung der drei Frauen – im Gegensatz zur Vermutung des Verteidigers – keinen Hinweis für eine verminderte oder gar ausgeschlossene Zurechnungsfähigkeit.
Obwohl der Prozeß unter strengem Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, sitzen dennoch einige adrett gekleidete Herren auf den Zuschauerbänken: Ausnahmslos höhere Funktionäre mit richterlicher Sondergenehmigung, die aus sicherheitspolitischen Gründen den Prozeßverlauf verfolgen.
Den letzten Verhandlungstag beschließen die Vorträge der Anklagevertretung und Verteidigung. Der Staatsanwalt spricht fast zwei Stunden und fordert schließlich die Todesstrafe. Das Plädoyer des Verteidigers dauert ebenso lange. Es ist sein letzter leidenschaftlicher Versuch, in diesem Prozeß mildernde Umstände für den Angeklagten zu erwirken und ihn damit vor dem Henker zu retten. Doch das Gericht kann und will der
Weitere Kostenlose Bücher