Blutspuren
heruntergekommenes zweistöckiges Wohnhaus, das der Stadt gehört. Es ist das letzte Haus am Ende des Obersteinweg, rechts neben der Freitreppe, die zum Friedhof führt. Da eine Rekonstruktion nicht mehr in Frage kommt, soll es in den nächsten Jahren der Abrißbirne zum Opfer fallen. Zur Zeit ist es allerdings noch bewohnt: Im Obergeschoß zwei ältere, gebrechliche Frauen, im Parterre der 34jährige Konrad Perschke. Letzterer ist ein ziemlich verschrobener Typ, der sich mit Geistererscheinungen und anderem okkulten Kram befaßt. Ein Einzelgänger, der seit seiner Scheidung vor anderthalb Jahren dort wohnt und auf dem nahen Friedhof arbeitet. Seine Exfrau wohnt mit den drei aus der Ehe stammenden Kindern in einem anderen Stadtgebiet. Die Männer der Mordkommission wollen wissen, ob er im Rahmen des Vermißtenfalls erfaßt und befragt wurde. Auch darüber kann der ABV Auskunft geben, denn er hatte die Mieter des baufälligen Hauses am 23. Juli höchst persönlich aufgesucht. Die Befragungsprotokolle wurden dem Auswertungsoffizier der Einsatzleitung bereits zugeleitet. Und was Perschke betrifft, der habe bereitwillig Wohnung, Keller und Dachboden gezeigt. Natürlich, so dessen Auskunft, sei das vermißte Kind ihm vom Sehen her bekannt, denn es habe in der Vergangenheit, wie von anderen Bewohnern der Straße, auch von ihm Altpapier und Flaschen erhalten. Doch das wäre schon Wochen her. Seitdem hätte er das Mädchen nicht mehr gesehen. Am Dienstag, den 20. Juli, habe er bis in den Vormittag hinein geschlafen, erst kurz nach 13.00 Uhr sei er zur Nachmittagsschicht aus dem Haus gegangen. Mehr könne er nicht sagen. Die Sache mit dem Mädchen aus der Finstertorstraße habe er aus der Zeitung erfahren. Schrecklich, wenn man sich vorstellt, es sei ermordet worden. Wenn seine Hilfe bei der Suche nach dem Kind benötigt würde, sei er gern bereit, die VP zu unterstützen. Die ehrenvolle Geste des rechtsbewußten Bürgers registriert der Vertreter der Staatsmacht freundlich ablehnend: »Danke, wir kommen vielleicht darauf zurück.«
Die Tatsache, daß zwei unabhängig voneinander eingesetzte Hundemeuten an gleicher Stelle einen Geruch witterten, der offensichtlich durch feine Kanälchen im Mauerwerk ins Innere der Gruft gelangt, macht den Mann aus dem Haus am Friedhof trotz seines Unschuldsgebarens verdächtig. Die Hunde sind auf Fäulnisgerüche (Kadaver) abgerichtet, die von verwesenden organischen Materialien ausgehen. Zwar können sie nicht Mensch- oder Tiergerüche unterscheiden, doch das Ergebnis ihres Einsatzes ist so beeindruckend, daß den Kriminalisten nichts anderes bleibt, als die Ursache für den Geruch zu enträtseln.
Unabhängig von ihrer klassischen jagdlichen Verwendung kann man annehmen, daß Hunde bereits in der Antike zum Aufspüren entwichener Sklaven eingesetzt wurden. Sichere Erkenntnisse über die Verfolgung von Menschen durch Hundemeuten liegen aus der Kolonialzeit des 18. Jahrhunderts vor. Der systematische Einsatz von Fährtenhunden im Polizeidienst ist jedoch erst seit etwa einhundert Jahren üblich. Der Hund lebt inmitten einer Geruchswelt. Für die Differenzierung der von ihm aufgenommenen Gerüche steht ihm im Vergleich zum Menschen ein 40fach größeres Areal des Gehirns zur Verfügung. Auch die Schleimhäute seiner Nase sind anatomisch vielfältiger gestaltet: Während die menschliche Riechschleimhaut mit etwa fünf Millionen Riechzellen ausgestattet ist, verfügt die Hundenase über die erstaunliche Anzahl von mehr als 300 Millionen.
Polizeihunde absolvieren eine mehrmonatige Ausbildung, wobei sie auf eine bestimmte Spurengruppe spezialisiert werden können (menschlicher Individualgeruch, Narkotika, Gas, Metalle, Sprengstoffe, Waffen usw.). Gut abgerichtete Polizeihunde können vier bis fünf Sorten Narkotika, mehr als zehn Arten von Sprengmitteln oder einen menschlichen Körper in fünf Meter Tiefe (Schnee, Trümmer, Erdreich) aufspüren. Empirische Untersuchungen an der Spezialschule des DDR-Innenministeriums für Hundewesen haben gezeigt, daß der Mensch ein Milligramm Buttersäure (ein Bestandteil des Schweißes) in tausend Kubikzentimetern Luft gerade noch, der abgerichtete Hund hingegen dieselbe Menge Buttersäure in einer Milliarde Kubikzentimeter Luft wahrnehmen kann. Optimale Einsatzbedingungen für Fährtenhunde bestehen bei hoher Luftfeuchtigkeit (z. B. Sprühregen, Schnee), Windstille und unbefestigtem Untergrund (Wiesen, Ackerboden, Waldwege, kniehoher Pflanzenbewuchs).
Die
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