Blutspuren
Version »Haus am Friedhof« sollte sich bald als entscheidender Wegbereiter für die Täterermittlung erweisen. Noch aber fehlen Informationen über die Persönlichkeit Perschkes, ohne die seine Befragung nicht offensiv genug erfolgen kann. Deshalb wird zunächst die geschiedene Ehefrau zu einem freundlichen Gespräch gebeten. Wenig zimperlich verleiht sie ihrer Aversion gegenüber ihrem Exmann Ausdruck: Konrad Perschke sei ein großer Spinner, der immerzu irgend etwas erfinden will und dazu mit gefährlichen Chemikalien experimentiert. Sie halte ihn für ziemlich verwahrlost, er sei sozusagen ein Schwein, nähme es mit der Körperpflege nicht so genau. Zu ihr und den Kindern wäre er in der Vergangenheit ziemlich rabiat gewesen. Von Jähzorn getrieben, habe er bei geringsten Anlässen gleich drauflosgeprügelt. Sie und die Kinder hätten sehr unter ihm gelitten. Nach zehnjähriger Ehe hätte sie es wahr gemacht und sich von ihm getrennt. Nach der Scheidung sei allerdings das Verhältnis zu den Kindern freundlicher geworden.
Doch dann macht Frau Perschke zwei Bemerkungen, die die Kriminalisten aufhorchen lassen: Zum einen erwähnt sie beiläufig, daß sie den Verdacht hege, ihr Exgatte könnte mit seiner achtjährigen Tochter Ramona »etwas Unsittliches machen«, was sich freilich nicht beweisen ließe, weil das Kind sich darüber nicht ausfragen läßt. Sie leite ihr ungutes Gefühl aus Perschkes plötzlichen, reichlich übertriebenen, seiner sonstigen Art gar nicht entsprechenden Zuneigung zu Ramona ab. Überdies sei das Kind in letzter Zeit merkwürdig verschlossen und ängstlich, besuche den Vater nur noch widerwillig, obwohl er es mit Geschenken überhäufe. Sie sei ihrem Verdacht aber nicht weiter nachgegangen, weil seit der Scheidung die Beziehung zu ihm insgesamt besser geworden sei.
Zum anderen antwortet Frau Perschke auf die Frage, wann sie ihren geschiedenen Ehemann das letzte Mal gesehen hat: Am Dienstag, den 20. Juli, sei sie gegen 11.00 Uhr bei ihm erschienen, um ihn zu einer Unterhaltserhöhung für die Kinder zu bewegen. Ihr war bekannt, daß seine Arbeitsschicht auf dem Friedhof erst am Nachmittag beginnt. Sie erinnere sich deshalb so genau an diesen Termin, weil seit diesem Tag das kleine Mädchen aus der Finstertorstraße verschwunden ist. Trotz ihres mehrmaligen heftigen Klopfens an die Tür habe Perschke aber nicht geöffnet, obwohl sie Geräusche aus der Wohnung vernahm, aus denen sie schloß, daß er längst aufgestanden war und bereits herumwerkelte. Unverrichteter Dinge sei sie dann wieder gegangen.
Bevor sich die Kriminalisten jedoch Konrad Perschke direkt zuwenden, werfen sie in der Kaderabteilung der Städtischen Friedhofsverwaltung einen Blick in seine Personalakte, in der die wichtigsten biographischen Stationen nachzulesen sind: Perschke wuchs elternlos in einem Kinderheim auf, schloß im Jahr 1945 mit mäßigen Leistungen die achte Klasse der Grundschule ab, verdingte sich als Malergehilfe, Heizer und Transportarbeiter, versuchte zeitweise sein Glück im »Goldenen Westen«, konnte dort aber nicht heimisch werden und kehrte im Jahr 1953 enttäuscht in die DDR zurück. Seitdem ist er als Friedhofsarbeiter tätig. 1954 heiratete er, wurde Vater dreier Kinder. Zehn Jahre später wurden die Ehe rechtskräftig geschieden und die Kinder der Mutter zugesprochen. Ihm blieb die Unterhaltsverpflichtung.
Am Donnerstag, den 5. August, erscheinen zwei Männer der Mordkommission auf dem Städtischen Friedhof. Konrad Perschke ist gerade dabei, ein frisches Grab zu schaufeln. Schweißtriefend und mit entblößtem Oberkörper verrichtet er in der sommerlichen Hitze sein Werk. Eine Zeitlang beobachten die Männer die hagere, dennoch muskulöse Gestalt mit dem rotblonden Haar und den unruhigen Augen, die fortwährend Selbstgespräche führt, deren Sinn den Männern aber verschlossen bleibt. Dann treten sie an den Rand der Grube: »Herr Perschke?«
Der Angesprochene in der Grube blickt nach oben auf die beiden Fremden und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht zeigt nicht die geringste Spur von Überraschung. Ziemlich mürrisch beantwortet er die Frage mit einer Gegenfrage, ohne seine Schaufelei zu unterbrechen: »Was is’n?«
»Sie wohnen doch da drüben in dem Haus an der Mauer?« fragen die Männer. Und als Perschke das bejaht, machen sie ihr Anliegen deutlich: »Volkspolizei. Wir müssen uns mal unterhalten!«
Der hagere Mann krabbelt wortlos aus der Grube,
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