Blutstein
ich?«
Sie erwartet zu hören, dass sie auf dem Hof bleiben müsse, doch dann
antwortet Henry:
»Du wirst auch nach Kalmar gehen. Und bei deiner Tante und deinem
Onkel leben und dort zur Schule gehen.«
»Und wenn ich das nicht will?«
»Du musst.«
Vendela verstummt. Hatte sie sich von den Elfen gewünscht, in die
Großstadt zu kommen? Hatte sie beim Elfenstein gestanden und sich gewünscht,
dass ihr Leben hier ein Ende hätte?
Sie kann sich nicht erinnern, sie hat sich so viele Dinge gewünscht.
Es nähert sich der Tag, an dem die kleine Familie in alle Winde
verstreut werden soll. Henry wird seine Strafe verbüßen, Vendela zieht zur
ihrer Tante, und Jan-Erik soll in Kalmar von zwei Pflegern aus Salberga
abgeholt werden. Der Tag vor ihrer Abreise ist ein Sonntag Mitte Mai,
bedrückend düster und bedeckt.
Am frühen Morgen packt Henry eine Reisetasche für sich und einen
Rucksack für Jan-Erik. Dann kocht er Kaffee und trinkt einen Becher. Er sitzt
stumm am Küchentisch und starrt hinaus auf das Ascherechteck im Hof. Vendela
sitzt ihm gegenüber. Sie schweigt ebenfalls und sieht auf ihre schmalen Hände.
Aber ihr Vater ist rastlos, gegen zehn springt er auf und hebt die
Kaffeekanne, ehe er registriert, dass er bereits Kaffee getrunken hat.
Unvermittelt wendet er sich zu Vendela.
»Ich gehe in den Steinbruch, arbeiten. Ausruhen können wir uns an
einem anderen Tag.«
»Du willst jetzt in den Steinbruch gehen?«
»Ja, aber ich bin heute Abend zurück, wenn deine Tante und dein
Onkel kommen. Sie nehmen uns alle drei mit nach Kalmar.«
Dann macht er sich auf den Weg zu seiner Arbeit an der Küste,
vielleicht zum letzten Mal. Vendela hört, dass er am Gartentor zu singen
beginnt. Sein Gesang verschwindet in der Ferne, und Vendela findet, das sie das
einsamste Mädchen auf der ganzen Welt ist.
Aber sie hat nicht vor, einfach nur dazusitzen und auf Tante Margit
und Onkel Sven zu warten. Als Henry um die Ecke gebogen ist, geht sie
schnurstracks in sein Schlafzimmer, kniet sich vor den Schrank und holt das
Schmuckkästchen hervor.
Das letzte verbleibende große Schmuckstück ihrer Mutter ist ein
goldenes Herz an einer dünnen Silberkette. Das steckt sich Vendela in die
Tasche.
Dann geht sie hoch zu Jan-Erik.
Im Obergeschoss ist es still. Nur die eintönige Radiostimme, die den
Wetterbericht vorliest, dringt aus Jan-Eriks Zimmer.
Vendela öffnet die Tür, ohne anzuklopfen.
Ihr Bruder liegt auf dem Boden und hört Radio. Er scheint sie zu
erwarten und lächelt sie an.
Vendela geht in die Hocke und sieht in seine meerblauen Augen.
»Papa ist weggegangen, Jan-Erik«, sagt sie langsam und deutlich. »Er
ist hinunter zum Steinbruch gegangen, wo er immer gearbeitet hat.«
Jan-Erik blinzelt.
»Sie werden dich auch bald abholen, und mich auch. Aber wir werden
nicht auf sie warten. Verstehst du mich?« Vendela zeigt in die Richtung, wo die
Alvar anfängt. »Wir werden zu den Elfen gehen.«
Er lächelt sie unverwandt an.
»Na, komm mit.«
Aber Jan-Erik bleibt auf seiner Decke sitzen und streckt ihr die
Arme entgegen. Er will getragen werden. Ihr dringt sein säuerlicher Gestank in die Nase, und sie hebt
den Finger.
»Aber du musst zuerst baden.«
Sie zerrt die Badewanne in die Küche, pumpt mehrere Eimer Wasser aus
dem Brunnen und wärmt es auf dem Holzofen. Als alles vorbereitet ist, trägt sie
ihren Bruder die Treppe hinunter. Er ist federleicht, mager und knochig.
Jan-Erik kichert nervös, während er sich selbst langsam ins Wasser
sinken lässt, das sich schon nach wenigen Minuten grauschwarz färbt. Seinen
Körper wäscht er selbst, Vendela hilft nur beim Gesicht. Sie reibt ein
Küchenhandtuch mit Seife ein und entfernt damit vorsichtig den Eiter und das
getrocknete Blut.
Darunter kommen geheilte Narben und Risse in der Haut zum Vorschein,
aber sie ist frischer und gesünder als erwartet. Jan-Erik fängt an, wie ein
Mensch auszusehen.
Nachdem er abgetrocknet ist, schneidet sie ihm die Nägel. Sie holt
ein frisches Hemd und eine Hose aus Henrys Kleiderschrank und krempelt sie
hoch, damit sie ihm passt.
»So, und jetzt gehen wir.«
Vendela trägt ihn aus dem Haus und spürt, wie er sein Kinn auf ihre
Schulter legt. Dann geht sie noch einmal hinein und holt den Rollstuhl. Dann
machen sie sich auf den Weg über den Kuhpfad in die Alvar.
Sie spricht leise mit ihrem Bruder:
»Die Elfen werden uns helfen, Jan-Erik. Es ist schöner bei ihnen.«
Aber Jan-Erik lacht nur. Er drückt seinen Rücken gegen
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