Blutstein
die Lehne und
zieht die Beine an.
Vendela entscheidet sich für die Strecke zwischen den Bäumen
hindurch, damit sie niemand sehen kann. Diesen Weg ist sie so oft hinter den
Kühen hergelaufen, den Kuhstock in der Hand.
Sie haben die Wiesen schon fast überquert und sind weit vom Haus
entfernt, als Vendela plötzlich einfällt, dass sie mehr als nur die Opfergabe
für die Elfen hätte mitnehmen sollen. Decken und etwas zu essen nämlich, aber
dafür ist es nun zu spät.
Sie schiebt den Rollstuhl über das Gras. Der Boden ist feucht, die
Räder sind groß, und sie kommen nur langsam vorwärts.
Sie lassen das letzte Gatter hinter sich und stehen auf der Alvar.
Unter dem gewaltigen, blauen Himmel geht Vendela mit ihrem Bruder
zielstrebig auf den Wasserstreifen am Horizont zu. Die untergehende Sonne im
Rücken, fährt sie den Rollstuhl zwischen den großen Seen der Alvar hindurch.
Direkt auf den dichten Kreis aus Wacholdersträuchern zu.
»Wir sind gleich da«, sagt sie.
Sie kann den Elfenstein schon sehen und spannt die Muskeln an, um
die letzten Meter schneller voranzukommen.
Abrupt stoppt die Fahrt. Vendela ist mit den Rädern in die Nähe
eines der Schmelzwasserseen geraten, wo das Gras im Wasser steht und der Boden
dadurch weich und nachgiebig ist. Der Rollstuhl sinkt langsam zur Seite.
Die großen Räder sind in dem lehmigen Boden stecken geblieben.
Zuerst bleibt Jan-Erik im Stuhl sitzen, während Vendela daran zieht
und zerrt, um ihn frei zu bekommen. Schließlich steigt er aus und stellt sich
daneben.
Vendela hofft insgeheim, dass er anfängt zu laufen und sie gemeinsam
weitergehen können. Aber er bleibt reglos stehen. Lächelnd beobachtet er ihren
Kampf mit dem Rollstuhl.
Schließlich gibt sie auf und lässt den Stuhl zurück. Sie streckt
ihrem Bruder die Arme entgegen und hebt ihn hoch, obwohl sie kaum noch Kraft in
den Beinen hat.
Dann setzen sie ihren Weg zu dem Kreis aus Wacholdersträuchern fort.
Die letzten Schritte bis zum Elfenstein schleppt sie Jan-Erik, Meter
für Meter. Der Körper in ihren Armen ist vollkommen entspannt, während sie
schwitzt und ihre Muskeln krampfen. Er hat auch sein Kinn wieder auf ihre
Schulter gelegt.
Sie betreten den Kreis zwischen den Wacholdersträuchern. Dort ist
der Boden trocken und hart. Vendela stellt Jan-Erik auf seine Füße, und er geht
die letzten Schritte zum Stein.
Endlich sitzt er mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, den Rücken
gegen den rauen Felsen gelehnt.
Vendela inspiziert die Oberfläche des Steins und bemerkt, dass alle
Kuhlen leer sind.
Die Elfen müssen vor nicht allzu langer Zeit da gewesen sein.
Sie lässt ihre Hand in die Tasche gleiten und spürt die Silberkette
zwischen den Fingern. Das letzte Schmuckstück ihrer Mutter. Sie legt sie in
eine der Kuhlen.
Kümmert euch um
ihn , wünscht sie sich. Und um mich auch. Macht uns gesund und frei von Sünden .
Sie atmet tief ein und aus. Dann lässt sie sich neben ihren Bruder
zu Boden sinken und sieht zu, wie die Sonne zwischen den Sträuchern untergeht.
Der Wind raschelt in den Blättern. Schweigend sitzen sie nebeneinander,
Vendela wartet. Die Vögel verstummen einer nach dem anderen, es wird immer
dunkler und kälter.
Nichts geschieht. Niemand kommt. Jan-Erik bewegt sich nicht, aber
sie friert erbärmlich in ihrem dünnen Kleid.
Schließlich, als die Nacht schon hereingebrochen und es eiskalt ist,
kann sie nicht mehr sitzen bleiben.
»Jan-Erik, wir müssen gehen, wir müssen uns Essen und wärmere
Kleidung holen.«
Er lächelt sie an und streckt ihr seine dünnen Arme entgegen, aber
sie schüttelt den Kopf.
»Nein, das schaffe ich nicht. Du musst selbst gehen.«
Aber er sieht sie nur freundlich an und bleibt sitzen.
Vendela macht sich auf den Weg, dreht sich aber noch einmal um.
»Warte hier auf mich, Jan-Erik. Ich komme, so schnell es geht,
zurück.«
53
D as
Kronan-Gymnasium in Kalmar bestand aus einer Ansammlung roter Backsteingebäude,
die einen halben Häuserblock umfassten. Per erreichte es eine halbe Stunde vor
zwölf, es wurde noch unterrichtet. Er lief durch lange, menschenleere Flure und
nahm die Treppe ins Schulsekretariat.
Im Vorzimmer saß eine junge Frau, die unmöglich vor fünfzehn Jahren
schon dort gearbeitet haben konnte. Als er eintrat, begrüßte sie ihn
freundlich:
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Vielleicht«, sagte Per. »Ich bin auf der Suche nach einer
ehemaligen Schülerin, die Anfang der Achtzigerjahre hier war.«
»Wie heißt sie
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