Blutstein
über sie, dann bemerkte
Per, dass seine Tochter leise weinte. Er setzte sich auf ihre Bettkante und
legte seine Hand auf ihren Rücken.
»Was ist los, Nilla? Erzähl es mir, dann finden wir eine Lösung.«
Ihr liefen die Tränen über die Wangen, als sie ihm erzählte, was
geschehen war.
Als Per eine Stunde später in Stenvik ankam, zog er sich sofort die
Joggingschuhe an und lief los. Ihm war vollkommen egal, wohin, Hauptsache weg.
Im Gegenwind rannte er am Steinbruch entlang, dann hinunter zum Wasser und
danach wieder ins Landesinnere, er wurde immer schneller, bis seine Lungen
brannten und die Oberschenkel steinhart waren.
Er blieb auf einer Felsplatte stehen, verschnaufte und hielt den
Kopf in den Wind. Er wollte sich übergeben, aber es ging nicht.
Er dachte unentwegt an Nilla.
Vor Wochen schon hatte er erkannt, dass dieses Schulhalbjahr
verloren war. Aber Nilla sollte im Herbst zurück in die Schule gehen können. Zu
ihren Klassenkameraden.
Sie musste zurück .
Das war der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss. Und sie
sollte nicht nur zurückkehren können: Sie sollte mit ihren Freunden zusammen
gesund und fröhlich aus dem Klassenzimmer stürmen können. Sie sollte wieder Basketball
spielen, Hausaufgaben machen, zu Schulfeten gehen und sturmfreie Bude zu Hause
haben können.
Dann sollte sie aufs Gymnasium wechseln und sich nachts nach einer
Party heimlich ins Haus schleichen, während Per tat, als ob er schliefe. Sie
sollte durch Europa reisen und fremde Sprachen lernen können.
Nilla musste wieder in die Schule gehen, eine Zukunft haben. Ihre
Zukunft war nicht mehr als die Gegenwart, aber bald würde sie ihr altes Ich
zurückbekommen. Er würde alles dafür tun.
Per traf auf eine bemooste Steinmauer und folgte ihr eine Weile,
dann kletterte er hinüber. Er befand sich am Rand der Alvar. Alles Wasser war
verdunstet. Der Boden war trocken und hart, und er lief weiter zwischen den
Büschen und Sträuchern hindurch.
Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass er verfolgt wurde. Ein
Rascheln ließ ihn anhalten und sich umdrehen.
Er war umgeben von einem Dickicht aus Büschen und hörte genau, wie
ihm jemand in gleichmäßigem Tempo folgte.
Er hielt die Luft an, er musste sofort an Markus Lukas denken und
ging in die Hocke. Er hatte nichts, um sich zu verteidigen – die Axt und die
anderen Waffen lagen alle im Haus.
Da tauchte plötzlich eine Gestalt zwischen den Sträuchern auf und
entdeckte ihn sofort. Entwarnung.
Es war Vendela Larsson. Sie war so außer Atem wie er und hielt in
ein paar Metern Entfernung, um zu verschnaufen.
Sie grüßten sich nicht, sondern atmeten im Takt und sahen sich dabei
in die Augen. Per entdeckte eine große Müdigkeit in Vendelas Gesicht, sie war
nicht nur physisch erschöpft. Er streckte sich und holte tief Luft.
»Mein Vater ist tot«, sagte er.
Vendela trat nah an ihn heran und legte ihre Hand auf seine Wange.
»Das tut mir furchtbar leid«, sagte sie.
Per nickte.
»Und Emil ist auch gestorben.«
Vendela erwiderte nichts, sie ließ ihre Hand, wo sie war, und sah
ihn fragend an.
Da erzählte er ihr alles.
»Er starb Sonntagabend. Er hat sich im Krankenhaus eine Infektion
geholt und war zu schwach, um dagegen anzukämpfen. Nilla hatte sich in ihn
verliebt, sie weinte die ganze Zeit, während sie es mir erzählte. Sie hat
geweint und geweint, und ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte.«
Vendela hob ihre Arme und drückte ihn sacht an sich.
Eigentlich wollte Per nicht umarmt werden. Es gab keine Liebe auf
dieser Welt.
Sie standen schweigend aneinandergeschmiegt und hielten sich lange
fest. Nach einer Weile bemerkte Per, dass sie im selben Rhythmus atmeten.
Lange, tiefe Atemzüge.
Dann löste sie sich langsam von ihm.
Sie nickte zu dem Labyrinth aus Büschen und Steinen, das vor ihnen
lag.
»Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.«
54
V endela
hatte an diesem Montagabend Max insgesamt achtmal angerufen, sowohl auf seinem
Handy als auch auf ihrem Festnetzanschluss in der Stadt. Aber erst beim neunten
Mal ging er ran. Zu diesem Zeitpunkt war Vendela nicht mehr in der Lage, ihre
Stimme beherrscht und ruhig klingen zu lassen. Sie schrie in den Hörer:
»Ally muss hier sein, Max. Hier auf der Insel!«
»Aber jetzt ist er eben hier.«
»Ihm geht es nicht gut in der Stadt!«
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte Max. »Ich gehe auf jeden Fall
morgen früh mit ihm zum Tierarzt. Dann werden wir erfahren, was mit ihm los
ist.«
Vendela
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