Blutstein
daran verschwendet. Er war mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
Gewissermaßen hatten ihm Ellas Tagebücher dabei geholfen. Oder waren es die neuen
Nachbarn und ihre Probleme, die ihn seine eigenen hatten vergessen lassen?
Er fror trotz Decke. Es war merklich kälter geworden, deshalb stand
er auf.
Er hörte Motorengeräusche auf der Hauptstraße. In den letzten Wochen
hatte der Verkehr auf der Straße zugenommen, und die meisten Fahrer waren viel
zu schnell unterwegs für die schmale Fahrbahn – aber dieser Wagen hier schien
langsam vorbeizurollen. Gerlof hörte, wie er bremste und anhielt. Allerdings
wurde der Motor nicht ausgeschaltet, merkwürdig.
Gerlof erwartete einen Besucher an seiner Gartentür, aber es kam
keiner.
Er wartete noch ein paar Minuten, dann nahm er seinen Stock und ging
durch den Garten, um nachzusehen. Der Untergrund war ziemlich uneben, aber
Gerlof hielt sich auf den Beinen.
Als er die Straße erreicht hatte, sah er den Wagen. Der Fahrer trug
eine schwarze Baseballkappe und hielt etwas in der Hand.
Gerlof kannte weder Auto noch Fahrer. Ein früher Tourist? Er hielt
sich am Torpfosten fest und war auch nur wenige Meter von dem Fahrzeug
entfernt, aber der Fahrer schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Schließlich
legte Gerlof die Hand als Trichter vor den Mund und rief:
»Benötigen Sie Hilfe?«
Er hatte nicht laut gerufen, aber der Mann wandte den Kopf und
entdeckte ihn. Er wirkte überrascht, fast so, als hätte ihn Gerlof bei etwas
ertappt.
Da sah Gerlof, dass der Mann eine Plastikflasche mit einer roten
Substanz in der Hand hielt. Diese mischte er mit einer anderen Flüssigkeit aus
einem Glasbehälter. An der Flasche waren Drähte befestigt.
»Haben Sie sich verfahren?«, rief Gerlof.
Der Fahrer schüttelte kurz den Kopf. Dann stellte er die Flasche auf
den Beifahrersitz und legte seine linke Hand aufs Steuer. Dabei sah Gerlof
etwas an seinem Handgelenk aufblitzen.
Hastig legte der Mann einen Gang ein und fuhr los.
Gerlof blieb am Tor stehen und sah dem Wagen hinterher, der Richtung
Küste fuhr. Doch kurz vor der Küstenstraße wurde er langsamer und bog rechts
zum Steinbruch ab.
Gerlof ließ den Torpfosten los, stützte sich auf seinen Stock und
schaffte es, sich umzudrehen, ohne zu stürzen. Dann machte er sich auf den Weg
zurück zu seinem Stuhl, blieb aber auf der Hälfte des Weges stehen und
überlegte, was der Mann da in der Hand gehalten hatte.
Was er gerade gesehen hatte, gefiel ihm gar nicht. Es war genau
genommen so bedrohlich, dass Gerlof den Eindruck hatte, dass die Luft auf einen
Schlag wesentlich kälter geworden war.
Er ging weiter, nahm aber Kurs auf sein Häuschen, kämpfte sich am
Geländer die Treppe hoch und schlurfte ins Wohnzimmer. Die Nummer von Ernst
hatte er noch im Kopf, und er wählte sie mit zitternden Fingern.
Zwölfmal ließ er es klingeln, aber weder Per Mörner noch jemand
anderer hob ab.
Gerlof legte wieder auf. Er blinzelte und versuchte, den Ernst der
Lage abzuschätzen.
Er war vierundachtzig Jahre alt, gebeutelt von Rheumatismus und
schwerhörig. Und die ersten Schmetterlinge des Jahres waren gelb und dunkelgrau
gewesen.
Das konnte gut gehen oder schrecklich böse enden.
Gerlof wusste nicht, ob er genug Kraft hatte, aber er sah sich
gezwungen, zum Steinbruch zu gehen und nachzusehen, ob Per seine Hilfe
brauchte.
68
A ls
Per sich auf den Weg zurück zur Küste quer durch die Alvar machte, waren die
Schatten noch länger als zuvor. Die Sonne hing vor ihm wie eine schwere goldene
Scheibe in einem schmalen blauen Streifen zwischen den Wolken vor dem Horizont.
Er war furchtbar müde. Das Letzte, was er getan hatte, bevor er sich
auf den Nachhauseweg gemacht hatte, war, Max Larsson anzurufen. Er hatte ihm
erzählt, dass er Vendela bewusstlos in der Alvar gefunden hatte, sie aber
aufgewacht war und sich auf dem Weg ins Krankenhaus von Kalmar befand.
Nur noch zwölf Stunden.
Das war ihm durch den Kopf geschossen, als er an dem Platz
vorbeikam, wo er Vendela und den Jungen gefunden hatte, der neben ihr gewacht
hatte. Dort, zwischen dem dichten Wäldchen aus Wacholdersträuchern und dem großen
Felsblock in der Mitte.
Der Elfenstein.
Er beschloss, hier einen Augenblick auszuruhen. Hier hatte er vor
ein paar Tagen mit Vendela gesessen, und sie hatten sich ihre Geheimnisse
offenbart. Er hatte Sachen von sich und seinem Vater erzählt, die er noch
niemandem je zuvor gesagt hatte. Und sie hatte ihm verraten, dass nicht Max,
sondern sie
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