Blutstein
Stimme. »Pelle?«
Das war schon wieder sein Vater. Erschöpft schloss Per die Augen und
musste daran denken, dass Jerry die Mittel gehabt hätte, um sich so eine
Millionenvilla an den Steinbruch zu stellen. Zumindest vor zehn oder fünfzehn
Jahren. Aber von diesem Geld hatte Per nie etwas gehabt, und seit Jerrys Schlaganfall
war seine finanzielle Lage äußerst unsicher geworden. Er konnte schließlich
nicht mehr arbeiten.
»Von wo rufst du an, Jerry? Wo bist du?«
Es rauschte in der Leitung, ehe er eine Antwort bekam.
»Ryd.«
»Okay, dann bist du also gut angekommen. Du wolltest doch zum Studio
fahren.«
»Zu Bremer«, stieß Jerry hervor.
»Ich verstehe. Du bist jetzt also bei Bremer.«
Per hörte an Jerrys Reaktion, dass da etwas nicht stimmte, und
versuchte es erneut:
»Gut, ich verstehe, du hast Hans Bremer also noch nicht getroffen?
Wollte er dich nicht abholen?«
»Nicht hier.«
Per überlegte, ob Jerry betrunken und verwirrt oder nur verwirrt
war.
»Dann fahr doch nach Hause, Jerry«, sagte er mit fester Stimme. »Geh
zum Bahnhof und nimm den erstbesten Bus zurück nach Kristianstad.«
»Kann ich nicht.«
»Doch, Jerry. Mach das.«
Erneut wurde es still in der Leitung.
»Hol mich, Pelle!«
Per zögerte.
»Nein, das geht nicht.«
Schweigen.
»Pelle ... Pelle?«
Per drückte den Hörer fester ans Ohr.
»Ich habe keine Zeit, Jerry«, sagte er. »Ich habe Jesper bei mir,
und Nilla kommt auch bald ... ich muss das erst mit ihnen besprechen.«
Aber sein Vater hatte bereits aufgelegt.
Per wusste, wo die Stadt Ryd lag. Zwei Stunden Autofahrt von Öland
aus. Das war zu weit. Aber das Gespräch mit Jerry hatte ihn beunruhigt.
Pass auf ihn auf ,
hatte ihm seine Mutter vor langer Zeit gesagt.
Anita hatte ihren Exmann nie beim Namen genannt. Und es war Pers
Aufgabe gewesen, den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten und ihr die Neuigkeiten
zukommen zu lassen, jahrein, jahraus. Die Reisen, die Jerry unternommen hatte,
die Frauen, die er kennengelernt hatte. Per hatte diese Aufgabe übernommen,
obwohl er nie darum gebeten hatte.
Er hatte Anita versprochen, auf Jerry aufzupassen. Allerdings nur
unter bestimmten Voraussetzungen, und eine davon war: Er wollte seinem Vater
nie allein gegenüberstehen.
Und dennoch fällte Per den Entschluss, nach Ryd zu fahren.
Jesper sollte solange zu Hause bleiben. Nilla und er hatten ihren
Großvater nur einige wenige Male getroffen, und da auch nur kurz. Das war mehr
als genug.
Seine Kinder vor dem Umgang mit Jerry zu schützen, war bislang seine
beste Entscheidung gewesen.
11
V endela
begriff schnell, dass ihre Neugier auf die Nachbarn nicht auf Gegenseitigkeit
beruhte.
Als sie am nächsten Tag aufbrach, um die Leute für das
Nachbarschaftsfest am Mittwoch einzuladen, versuchte sie zunächst, die
bewohnten Häuser im Ort ausfindig zu machen. Aber das war ein hoffnungsloses
Unterfangen. Sie lief die Küstenstraße entlang, die sich an die tiefe Bucht bei
Stenvik schmiegte. Aber ihr begegnete kein einziger Mensch. Sie traf nur auf
verriegelte und mit Fensterläden winterfest gemachte Häuser – und bei den
Häusern, die keine Fensterläden hatten, öffnete niemand, als sie klingelte. Ab
und zu hatte sie zwar den Eindruck, dass jemand zu Hause war, aber keiner
wollte sich zeigen.
Erst als sie den südlichen Teil der Ortschaft erreicht hatte und an
der Tür des weißen Häuschens neben dem Kiosk anklopfte, wurde ihr geöffnet. Ein
kleiner, weißhaariger Mann mit ölverschmierten Händen machte die Tür auf.
Offenbar war er gerade mit einem Bootsmotor beschäftigt gewesen. Vendela
vermied es, ihm die Hand zu geben.
»Hagman, John Hagman«, erwiderte er, nachdem sie sich vorgestellt
hatte.
Ihre Einladung zum Fest kommentierte er mit einem Nicken.
»Das geht in Ordnung«, sagte er. »Sie wohnen also am Steinbruch?«
»Stimmt genau, wir sind gerade ...«
»Benötigen Sie Hilfe im Garten? Ich grabe, jäte und harke, alles,
was notwendig ist.«
»Das hört sich aber gut an.« Vendela kicherte nervös. »Davon werden
wir eventuell Gebrauch machen.«
Hagman nickte zum Abschied und schob die Tür zu.
Vendela sah sich genauer um, ihrer Meinung nach sollte sich John
Hagman zuallererst um seinen eigenen Garten kümmern, der war ganz schön
verwildert.
Sie kehrte zurück zum Steinbruch und spürte eine zaghafte Sehnsucht
nach ihrem Medikamentenschrank. Aber heute würde sie ihn nicht öffnen.
Sie bog auf den Zufahrtsweg zu der benachbarten Villa ein, die
ungefähr
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