Blutstein
das ihre Aufgabe war.
Eigentlich freute er sich auf diese Besuche, obwohl die Schwestern
oft gestresst waren und ihn ab und zu auch mit falschem Namen ansprachen. Aber
es war wahrscheinlich auch keine leichte Aufgabe, sich an alle alten Leute zu
erinnern, die man den ganzen Tag über in den verschiedenen Ortschaften
besuchte. Ihr Aufenthalt dauerte nie lange. Manchmal hatten sie Zeit für einen
kurzen Plausch, manchmal hatten sie es so eilig, dass sie die Begrüßung
ausließen. Sie stellten dann nur das Essen in die Küche und waren wieder verschwunden.
Eine dritte Besucherin, die allerdings unregelmäßiger kam, war
Doktor Wahlberg, Carina Wahlberg. Sie schwebte mit ihrem langen schwarzen
Mantel über dem Arztkittel durch den Garten. Wenn Gerlof nicht draußen saß,
klopfte sie energisch und laut an die Haustür.
Manchmal kam sie donnerstags, manchmal dienstags und ab und zu sogar
am Sonntag. Gerlof gelang es nicht, das Geheimnis ihres Terminkalenders zu
ergründen, aber er freute sich, wenn sie kam. Sie überprüfte seinen
Medizinvorrat, seinen Blutdruck und nahm ab und zu eine Urinprobe.
»Wie ist es, zu den Achtzigplus zu gehören, Gerlof?«
»Wie das ist?«, wiederholte er. »Es ist unbeweglich, ich sitze ja
hier nur rum. Heute hätte ich eigentlich zur Kirche gehen sollen ... aber ich bin
irgendwie nicht hochgekommen.«
»Aber wie fühlen Sie sich rein physisch?«
»Sie können es ja mal selbst ausprobieren«, sagte er und deutete
sich auf den Kopf. »Stecken Sie sich ordentlich Watte in die Ohren, ziehen Sie
sich ein Paar schlecht besohlte Schuhe an und ein Paar dicke Gummihandschuhe ...
und schmieren Sie sich Vaseline auf die Brillengläser. So ist es,
vierundachtzig zu sein.«
»Na, dann weiß ich Bescheid«, antwortete die Ärztin. »Apropos,
erinnern Sie sich noch an Wilhelm Pettersson? Als ich ihm erzählte, dass ich
heute zu Ihnen fahre, bat er mich, Sie von ihm zu grüßen.«
»Der Fischer?« Gerlof nickte, natürlich erinnerte er sich an Wille
aus Tallerum. »Wilhelm wurde im Zweiten Weltkrieg von einer Mine erwischt. Er
stand achtern in einem Fischkutter, als die Mine am Bug explodierte. Er wurde
dreißig Meter ins Wasser geschleudert. Wille war der Einzige der Besatzung, der
überlebte ... Wie geht es ihm?«
»Ganz gut, aber er wird langsam taub.«
»Das liegt bestimmt an seinem unfreiwilligen Flug von damals.«
Gerlof vermied es eigentlich, an die Minenfelder zu denken, die im
Krieg vor Öland im Meer ausgelegt worden waren, aber jetzt wurde er
unweigerlich daran erinnert. So viele Schiffe waren damals gesunken. Während
des Krieges hatte er die Frachter an den Minen erfolgreich vorbeigelotst, aber
immer wieder suchte ihn ein nächtlicher Albtraum heim, in dem er auf eine der
Minen lief. Dort unten in der Tiefe gab es immer noch welche, verrostet und mit
Algen bedeckt ...
Gerlof zuckte zusammen, die Ärztin hatte ihm eine Frage gestellt.
»Entschuldigen Sie bitte?«, sagte er.
»Ich habe gefragt, wie es mit Ihrem Hörvermögen ist?«
»Das ist ganz gut«, erwiderte Gerlof. »Ich kann das meiste hören.
Manchmal habe ich so ein Rauschen im Ohr, aber das ist vermutlich der Wind.«
»Wir können das bei Gelegenheit mal überprüfen«, sagte Frau Doktor
Wahlberg. »Sie meinten vorhin, dass es sich anfühlt, als hätten Sie Watte im
Ohr ... vielleicht ist es Zeit für eine Hörhilfe?«
»Lieber nicht«, wehrte Gerlof ab, der nicht noch ein technisches
Gerät haben wollte, auf das er achtgeben musste.
»Und wie geht es Ihnen sonst?«
»Alles ist gut.«
Das war die einzige Antwort, die Gerlof geben wollte – wenn er der
Ärztin erzählen würde, dass er bezweifelte, noch besonders lange zu leben,
würde er unter Umständen umgehend ins Altersheim zurückgebracht werden. Daher
ergänzte er nur:
»Ich gebe allerdings zu, dass es ein merkwürdiges Gefühl ist, keine
Zukunft zu haben.«
»Keine Zukunft?«
Gerlof nickte.
»Wäre ich jünger, würde ich mir ein Boot kaufen, aber in meinem
Alter kann man keine Pläne mehr schmieden.«
Er bemerkte, dass Frau Doktor Wahlbergs Gesicht einen sorgenvollen
Ausdruck annahm, und als sie den Mund öffnete, fuhr er schnell fort:
»Aber das macht nichts. Im Gegenteil, ich fühle mich sehr frei.«
»Sie haben ja auch so viele Erinnerungen«, antwortete sie und
lächelte.
»Stimmt genau«, bestätigte Gerlof, ohne das Lächeln zu erwidern.
»Und mit denen verbringe ich die meiste Zeit.«
Nachdem die Ärztin ihn wieder verlassen hatte, blieb
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