Blutstein
Küche, wo seine
Kameratasche stand. Vendela warf er nur einen kurzen Blick zu.
»Muss nur eben mein Weitwinkelobjektiv holen.«
»Wofür?«
»Max hat eine Schlange getötet!«
Er verschwand in der Küche, und Vendela blieb einen Moment lang
reglos sitzen, bevor sie sich langsam erhob. Hinter ihr hatte sich auch Aloysius
in seinem Korb aufgerappelt und jaulte, aber sie hatte jetzt keine Zeit für
ihn.
Sie trat hinaus auf die Terrasse. Es war kühl, obwohl die Sonne auf
die glatt gewalzte Erde des Grundstücks schien.
Max stand vor der alten Steinmauer, hatte einen Spaten in der Hand
und betrachtete den Gegenstand, der auf der Spatenschaufel lag.
Vorsichtig näherte sich Vendela. Die Schlange hatte schwarze Zacken
auf dem Rücken – eine Kreuzotter. Sie konnte den Kopf des Tieres nicht sehen,
die Schlange hatte sich zu einem unförmigen Knoten zusammengerollt und wand
sich, als würde sie sich noch enger einwickeln wollen.
»Die lag in der Sonne, als ich mich gerade mit dem Spaten in der
Hand an die Steinmauer stellen sollte«, sagte Max, als er Vendela bemerkte.
»Sie hat versucht, unter die Steine zu fliehen, als sie mich sah, aber ich habe
sie trotzdem erwischt.«
»Max«, sagte Vendela leise, »du weißt schon, dass Kreuzottern unter
Naturschutz stehen?«
»Ach ja?« Er lächelte sie an. »Nein, das wusste ich nicht. Aber die
Schlange auch nicht ... oder was meinst du?«
Vendela schüttelte nur den Kopf.
»Sie lebt doch noch«, erwiderte sie. »Sie bewegt sich.«
»Muskelzucken«, grunzte Max. »Ich habe ihr den Schädel mit dem
Spaten gespalten. Ihr Körper hat es nur noch nicht kapiert.«
Sie entgegnete nichts, erinnerte sich aber daran, wie ihr Vater sie
als Kind immer davor gewarnt hatte, eine Kreuzotter zu töten. Damals standen
die Tiere zwar noch nicht unter Naturschutz, aber sie galten als magische
Wesen. Besonders die schwarzen – eine schwarze Kreuzotter zu töten bedeutete
einen jähen Tod für den Täter.
Die Schlange, die Max auf dem Gewissen hatte, war immerhin grau
gewesen.
»Wir müssen sie begraben«, sagte sie.
»So ein Quatsch«, widersprach Max energisch. »Die wird weggeworfen.
Die Möwen sollen sich darum kümmern.«
Mit dem erhobenen Spaten trat er an die Kante zum Steinbruch.
»Nur ein Bild noch!«
Der Fotograf hielt seinen Apparat wieder im Anschlag. Er schoss eine
ganze Serie von Fotos, und Max posierte bereitwillig, grinste breit und hob den
Spaten noch höher.
»Großartig!«, schrie der Fotograf.
Dann stapfte Max zur Vorderseite des Hauses, riss den Spaten in die
Luft und schleuderte die Schlange im hohen Bogen in den Steinbruch. Ihr Körper
flog wie ein kaputter Fahrradschlauch durch die Luft.
»So, erledigt!«
Die Schlange war unten auf dem Boden aufgeprallt, aber Vendela sah,
wie sie sich noch immer im Kalkstaub wand und drehte. Erneut musste sie an
ihren Vater denken, seine Kleidung und die Schirmmütze waren immer weiß
gepudert gewesen, wenn er von der Arbeit aus dem Steinbruch nach Hause kam.
Der Fotograf trat an die Kante heran und machte ein paar letzte
Aufnahmen von der Schlange. Vendela sah ihn an.
»Sollen die etwa auch ins Kochbuch?«
»Klar«, antwortete er. »Wenn sie gut geworden sind!«
»Das finde ich keine überzeugende Idee. Schlangen sind doch keine
Speise.«
Vendela entschied in diesem Augenblick, keinen Fuß in den Steinbruch
zu setzen. Nicht in diesem Frühling, ihre Welt war die Alvar.
Sie kehrte ins warme Wohnzimmer zurück. Das Notizheft lag unberührt
auf dem Sessel. Sie griff danach und fing an zu schreiben:
Wir Menschen
haben vor so vielen Dingen Angst, wir betrachten die Natur häufig als etwas
Böses. Eine Schlange im Gras lässt kalten Angstschweiß ausbrechen und führt unsere
Gedanken zur Schlange im Paradies, erinnert uns an die Verführung und daran,
dass unsere Welt bedroht ist und so weiter.
Für die Elfen
jedoch sind die Reptilien und alle anderen Lebewesen miteinander und mit der
Natur verbunden, sie führen weder Böses noch Gutes im Schilde. Sie erinnern nur
daran, dass wir alle Teil eines größeren Ganzen sind.
Habe keine Angst
vor der Natur, du lebst in ihr.
12
G erlof
bekam jeden Tag zweimal Besuch von Mitarbeiterinnen des mobilen Pflegedienstes.
Zwar kamen manchmal auch Aushilfen, aber meistens brachte ihm Agnes gegen halb
zwölf das Mittagessen, und gegen acht Uhr abends stand Madeleine in der Tür, um
seine Chancen darauf, die Nacht zu überleben, abzuschätzen. Zumindest ging
Gerlof davon aus, dass
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