Blutstein
Jerry.
Entweder saß er bereits im richtigen Bus nach Hause, oder er hatte sich auf
eigene Faust auf den Weg gemacht und irrte irgendwo herum.
Per zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seines
Vaters zum wiederholten Mal.
Nach drei Klingelzeichen nahm jemand das Gespräch entgegen.
Aber Per hörte keine Stimme, nur ein Rauschen, gefolgt von zwei
dumpfen Schlägen.
Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Per sah verwundert auf sein Display. Nun machte er sich auf den Weg
zum Zeitungskiosk, um sich dort nach Jerry zu erkundigen.
»Ein alter Mann?«, fragte die junge Frau hinter der Theke.
Per nickte.
»Dreiundsiebzig. Er ist eigentlich stattlich, hat breite Schultern,
aber mittlerweile wirkt er angeschlagen und in sich zusammengesunken.«
»Vor einiger Zeit stand vor dem Laden ein älterer Herr und wartete ...
er stand da eine ganze Weile.«
»Und wo ist er dann hingegangen? Haben Sie das gesehen?«
»Nee.«
»Ist er in einen Bus gestiegen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wurde er von jemandem abgeholt?«
»Vielleicht ... er war plötzlich einfach weg.«
Per gab es auf. Er ging zurück zum Wagen und beschloss, zu Jerrys
Haus im Wald zu fahren.
Zu seinem Studio. Es lag ein paar Kilometer westlich von Ryd, in der
Nähe der Ortschaft Strihult. Jerry hatte das Grundstück Mitte der Siebzigerjahre
gekauft und bebaut, als das Geld in Strömen zu fließen begann. Solange Jerry
noch selbst Autofahren konnte, war er jede Woche zwischen seiner Wohnung in
Kristianstad und dem Haus in Ryd gependelt, um seine Filme zu produzieren. Am
Anfang mit wechselnden Assistenten, später dann nur noch mit Hans Bremer.
Nur einmal hatte Per das Anwesen betreten, als er Jerry vor etwa
drei oder vier Jahren dorthin gefahren hatte. Damals erfreute sich sein Vater
noch bester Gesundheit und wollte in Ryd einen der letzten Filme schneiden, die
er zusammen mit Hans Bremer gedreht hatte. Per war auf dem Weg nach Kalmar gewesen
und hatte Jerry dort nur rasch abgesetzt. Er hatte sich geweigert, mit ins Haus
zu kommen.
Strihult bestand aus einer kleinen Ansammlung von Häusern, einer
kleinen Tankstelle und einem Lebensmittelladen. Per rollte durch die Ortschaft,
ohne einen einzigen Menschen zu sehen.
Hinter dem Ortsausgang wurde die Straße enger, der Nadelwald dichter
– nach ein paar Kilometern entdeckte er ein Schild in Form eines weißen Pfeils,
der rechts in den Wald zeigte und auf dem MORNER ART AB stand. So hieß eine von
Jerrys Firmen.
Er näherte sich seinem Ziel, und die Hände hielten das Steuer fester
umklammert. Obwohl Jerry ihn mindestens einmal die Woche anrief, hatten sie
sich zuletzt im Dezember gesehen, als Per ihn für ein paar Stunden in seiner
Wohnung besucht hatte. Jerry hatte Weihnachten ganz allein und auch ohne
Damenbegleitung verbracht.
Nach einem weiteren halben Kilometer durch Nadelwald tauchte
plötzlich eine dichte Hecke aus Zypressen auf. Er war da.
Warnung vor dem
Hund! stand auf einem roten Schild an der Einfahrt, obwohl Jerry
in seinem ganzen Leben noch nie einen Hund gehabt hatte.
Per bog auf das Grundstück ein, folgte dem Weg, der um eine Garage
herumführte, und blieb schließlich auf der großen, leeren Kiesauffahrt stehen.
Er schaltete den Motor ab, öffnete die Tür und betrachtete das Gebäude vor ihm.
Es war groß und breit, zweistöckig und geformt wie ein liegendes L. Jerry, Bremer
und ihre Schauspieler hatten dort übernachtet, wenn sie drehten, darum ging Per
davon aus, dass im kürzeren Gebäudetrakt die Wohnräume waren und Jerry im
längeren die Studioräume eingerichtet hatte.
Per fühlte sich zwar nicht willkommen, aber er wollte auf jeden Fall
klingeln. Selbst wenn sein Vater nicht da sein sollte, würde zumindest Hans
Bremer im Haus sein.
Per war ihm bisher noch nie begegnet, aber sie beide mussten sich
jetzt unbedingt unterhalten – über die Zukunft. Jerry war viel zu krank, um die
Firma weiterzuführen. Es war an der Zeit, MORNER ART abzuwickeln und dieses
Grundstück zu verkaufen. Bremer würde sich nach einem neuen Job umsehen müssen,
aber das hatte er vermutlich schon längst getan.
Eine breite Zementtreppe führte zum Eingang, der gesäumt war von
vielen glänzenden Fenstern, aber die Gardinen waren zugezogen.
Per stieg aus und warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig nach vier.
Es blieben noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang, aber der Himmel war
bedeckt, und die hohen Nadelbäume, die das Grundstück umgaben, verschluckten
das Tageslicht.
Es
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