Blutstein
wissen, ist, dass es am leichtesten und
wahrscheinlichsten ist, ihnen im Frühling und im Sommer in der Abend- und
Morgendämmerung zu begegnen.
Wenn die Sonne
untergegangen ist und es windstill wird, verwischen die Grenzen zwischen
unseren Welten. Dann wird alles möglich. Dann kann derjenige, der Sorgen und
Stress zu Hause gelassen hat und in die Natur hinausgegangen ist, erleben, wie
die Regeln für Zeit und Raum aufgehoben werden und sich die Pforte in eine
andere Welt öffnet. Dann kann derjenige, der einen offenen Geist hat, den Elfen
begegnen.
Zumindest war das ihre Hoffnung. Natürlich wusste Vendela nicht
sicher, wo und wie man Elfen am besten begegnen konnte, aber in einem Handbuch
durfte man niemals zweifelnd klingen. Das hatte ihr Max beigebracht.
Aber es fiel ihr schwer, keine Zweifel zu haben, sie hatte so viele
unbeantwortete Fragen. Manchmal überkam sie die Befürchtung, dass vielleicht
nur Kinder mit Elfen in Kontakt kommen können, so wie das Mädchen aus
Cottingley in England, dem es sogar gelungen war, Fotos von ihnen zu machen. In
diesem Fall wäre jede Hoffnung für Vendela verloren.
Adam Luft aber hatte gesagt, dass es leichter wäre, ihnen zu
begegnen, wenn man den Glauben, aber keine Hoffnung habe. In diesem Augenblick
sei man wirklich bereit. Oft könne man sie auch nur aus dem Augenwinkel
erkennen. Die Elfen mochten es nicht, wenn man ihnen direkt in die Augen sah,
so hatte Adam es erklärt – sie konnten die intensiven Blicke der Menschen nicht
ertragen.
Vendela schrieb weiter:
Elfen sind
federleichte Wesen mit zart schimmernden Flügeln, sie bewegen sich so zaghaft,
dass man meint, sie schwebten über dem Boden. Wenn man aufmerksam danach sucht,
kann man manchmal ihre glitzernden Spuren im Gras entdecken.
Aber besonders
zeichnen sie sich durch ihren hingebungsvollen Charakter aus. Eine Elfe, liebe
Leserinnen und Leser, die mit Ihnen Kontakt aufnimmt, wird ein Leben lang Ihre
Begleiterin sein, auch wenn Sie sie nicht sehen können. Vielleicht hören Sie
ihre Gefährtin nur – wie ein leises Rascheln im Gras hinter ihnen.
Vendela beendete ihr Vorwort und sah durch die großen Fenster, die
auf den schwarzen Steinbruch hinausgingen. Als sie sich an das Rascheln am
Elfenstein erinnerte, musste sie unwillkürlich an die Trolle denken –
selbstsüchtige, brutale und gewalttätige Trolle.
Nein, sie wollte nicht an sie denken, schon gar nicht, wenn sie
allein im Haus war.
19
A m
Dienstag vor Ostern bekam Gerlof zwei neue Besucher – Vater und Sohn, die sich
offensichtlich nicht besonders mochten.
Nachdem er sein Mittagessen aufgewärmt und gegessen hatte, setzte er
sich in seinen Gartenstuhl, um die Zeitung zu lesen und den Vögeln zuzuhören.
In friedlicher Erwartung des herannahenden Abends.
Da bemerkte er einen grauhaarigen Mann in einem zerknitterten
Mantel, der mit einer Zigarette im Mundwinkel die Straße hinunterlief. Es war
ein junger Mann, zumindest verglichen mit Gerlof – so um die siebzig, aber er
sah nicht besonders gesund und munter aus.
Der Mann schien sich verlaufen zu haben. Er stand eine Weile vor
Gerlofs Gartentor, zog an seiner Zigarette und sah sich um. Dann öffnete er das
Tor und trat in den Garten. Erneut blieb er stehen, es wirkte so, als wüsste er
weder, wo er war noch wie er dorthingekommen war. Sein linker Arm hing leblos
von der Schulter herab; er schien gelähmt zu sein.
Gerlof sah ihn erwartungsvoll an, sagte aber kein Wort. Er hatte an
diesem Tag eigentlich keine Lust auf zusätzlichen Besuch außer den Schwestern
vom Pflegedienst.
Schließlich kam der Mann näher, sein Blick irrte nach wie vor durch
die Gegend. Er hustete einmal kräftig, drückte seine Zigarette aus, sah Gerlof
in die Augen und sagte leise:
»Jerry Morner.«
Seine Stimme war heiser und rau, und er sprach mit einem harten,
schonischen Dialekt.
»Aha«, erwiderte Gerlof. »So heißen Sie also.«
Der Mann ließ sich schwer auf den Besucherstuhl fallen.
»Jerry«, sagte er.
»Dann haben wir ähnliche Vornamen. Ich heiße Gerlof.«
Jerry holte eine neue Zigarette aus der Packung, hielt sie aber nur
in der Hand und betrachtete sie eingehend. Dabei entdeckte Gerlof, dass er zwei
Armbanduhren am linken Handgelenk trug, eine aus Gold, die andere aus Stahl.
Aber nur eine zeigte schwedische Zeit.
»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich Gerlof freundlich.
Der Mann starrte ihn mit leicht geöffnetem Mund an, als sei die
Frage zu kompliziert gewesen.
»Jerry«, wiederholte er
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