Blutstern
Leitner. »Nun, wer keine Arbeit hat, der schafft sich welche.«
Thomas fand die Bemerkung ziemlich unpassend, sagte jedoch nichts, denn er konnte schlecht in Gegenwart der gesamten Familie von Sabine mit Alexander streiten. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass der Mord an seiner Mutter die meisten der Anwesenden kaum mitnahm. Er sah die Stuckdecke über sich, den Kronleuchter, der ein gemütliches Licht verbreitete, und war einen Moment lang ganz weit weg mit seinen Gedanken, weit weg bei seiner Mutter, die in diesem weiÃen Sarg auf dem Friedhof lag, bedeckt mit Kränzen, unter einem einfachen Holzkreuz, das fürs Erste provisorisch dort aufgestellt worden war.
»Sie sind so schweigsam, Herr Drucker«, sprach ihn Oskar Leitner an, der seine gedankliche Abwesenheit bemerkte. »Hat Sie sicher alles ziemlich mitgenommen. Zuerst der Mord an Ihrer Mutter, dann der Mordanschlag auf Sie, ist ja scheuÃlich.«
»Ja, ich kann es noch nicht richtig fassen.«
Sabine drückte unter dem Tisch seine Hand.
»Bin mal gespannt, ob es überhaupt mit Satanismus zu tun hat«, bemerkte Johann Flieger. »Vielleicht sollen diese Symbole und Schmierereien nur von den wahren Motiven ablenken.«
»Das wäre ganz schön riskant«, gab Bernhard Flieger zu bedenken. »Die hätten heute an der Kirche leicht erwischt werden können.«
»Tja, das stimmt. Es muss also um eine sehr wichtige Sache gehen, für die man ein Risiko in Kauf nimmt«, kombinierte Johann Flieger. »Es tut mir sehr leid für Sie, Herr Drucker«, sagte er, »aber ändern kann man es nicht mehr. Essen Sie tüchtig und passen Sie auf sich auf. Das Leben muss weiter gehen.« Dabei prostete er ihm freundlich zu, sie stieÃen sogar mit den Gläsern an, und für einen Moment war Thomas der alte Herr richtig sympathisch.
Das Essen war inzwischen aufgetragen worden, die Unterhaltung wechselte zu den Vorgängen in der Textilindustrie, Alexander Leitner versuchte mit Sabine ins Gespräch zu kommen und Thomas diskutierte mit Bernhard Flieger, seinem direkten Chef in der Firma, die nächsten Schritte der geplanten Marketingkampagne. Allerdings konnte er sich schlecht auf das Gespräch mit Flieger konzentrieren, da er ständig mit einem Ohr der Unterhaltung Sabines mit Alexander folgte. Fast kam es ihm so vor, dass Bernhard Flieger und Alexander Leitner ihn bewusst in dieser Zwickmühle quälen wollten, da sie natürlich wussten, wie sehr er auf Sabine achtete. So war Thomas heilfroh, als endlich der Nachtisch, Kaffee und Espresso gereicht wurden und Johann Flieger seinen Fahrer einbestellte, der ihn direkt an der Gaststätte abholen sollte.
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Während sich die Kneipen in der Aschaffenburger Altstadt mit den Kirchenbesuchern füllten, machte sich Maria Beletto auf den Heimweg. Sie kam als eine der letzten aus der Stiftskirche. Das Gehen bereitete ihr Probleme, daher hatte sie gewartet, bis sich die Besucher durch den Seiteneingang der Basilika ins Freie geschoben hatten. Als sie in die überdachte Vorhalle der Kirche trat, sah sie die Kriminalisten bei der Arbeit. Sie untersuchten die Türflügel, welche mit blutroten Sternen beschmiert waren, liefen mit Plastiküberzügen an den Schuhen herum und hatten den Eingangsbereich der Kirche mit weiÃ-roten Bändern abgesperrt.
Wahnsinn, dachte sie, und das alles wegen meiner Ilona.
Ilona Drucker war für sie wie eine Tochter gewesen. Sie hatte ihr geholfen, als sie nicht mehr weiter wusste, hatte sie bei dieser Sache mit dem jungen Mann unterstützt. Etwas war schief gelaufen. Ilona war ermordet worden und Maria Beletto ahnte, dass es mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte.
Stufe für Stufe humpelte sie mit ihrem Gehstock den Treppenabgang der Stiftskirche hinunter. Ihr viel zu langer Wintermantel schleifte über die Stufen und sie war froh, als sie endlich unten ankam. Der Stiftsplatz war inzwischen einsam und verlassen. Nur ein Polizeiauto parkte dort, wahrscheinlich von der Spurensicherung. Sie ging in die Pfaffengasse hinein, vorbei an dem Italiener, bei dem sie sonst ihr Ciabatta-Brot holte. Ihr Gehstock klapperte auf dem Pflaster. Vorsichtig, Schritt für Schritt, kämpfte sie sich voran. Bloà nicht fallen, dachte sie. Hier und da waren Schneereste zu kleinen Eisplatten zusammengeschmolzen, die sicher teuflisch glatt waren.
Teuflisch. Dieses Wort weckte Erinnerungen in ihr. Ilona
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