Blutsvermächtnis (German Edition)
vollkommen ruhig und ernst. Sie suchte erneut seinen Blick. „Willst du mir nicht wenigstens noch eine halbe Stunde geben?“
Ihr Gesicht spiegelte Trauer. Die vier roten Striemen auf der Wange malten sich mit Überdeutlichkeit auf ihrer blassen Haut ab.
„Fünf Minuten. Ich wüsste nicht, was du mir noch erzählen könntest, was mich umstimmt. Unsere Wege werden sich hier trennen.“
Sie nickte. Dann wandte sie sich ab und starrte durch die Windschutzscheibe. Noah wollte sie schon daran erinnern, dass ihre Zeit lief, da setzte sie zu reden an, so leise, als spräche sie nur zu sich selbst.
„Ich ging noch in den Kindergarten, als ich herausfand, was mein Vater ist.“ Sie machte eine Pause, als wüsste sie nicht, wo sie anknüpfen sollte.
„Ich erwischte ihn, wie er über meine Mutter gebeugt stand und ihr in den Hals biss.
Ich verstand nicht, was er da tat. Mucksmäuschenstill versteckte ich mich in einer Ecke und beobachtete das Geschehen. Mommy stöhnte und wand sich. Zuerst hatte ich Angst, dass sie Schmerzen hätte, doch so hörte sie sich irgendwie nicht an. Die Geräusche klangen eher wie das, was ich ab und zu des Nachts aus ihrem Schlafzimmer vernahm. Mommy hatte mir erklärt, dass das etwas zwischen Dad und ihr sei, das ich erst später begreifen würde. Es sei nichts Schlimmes und er tue ihr auch nicht weh. Sie meinte, beide würden sich wohlfühlen bei dem, was sie da taten und ich solle keine Angst haben.
Deswegen machte es mir nicht arg so viel aus, als ich sie dieses Mal beobachtete. Sie standen unter dem Rosenbogen in unserem Garten, also sah ich keinen Grund, warum ich mich zurückziehen sollte. Außerdem war helllichter Tag. Und ich platzte beinahe vor Neugierde. Es geschah nichts weiter Aufregendes. Zuerst. Irgendwann löste Dad seinen Mund von Mommy. Er biss sich in sein Handgelenk und tropfte Blut in ihren Mund. Nach einer Weile sagte er: ‚Es ist vollbracht.‘
Ich hatte keine Vorstellung, was er meinte. Doch schon bald sollte ich es zu spüren bekommen. Mommy veränderte sich. Sie schlug mich zum ersten Mal in meinem Leben – und das wegen einer Kleinigkeit. Ich hatte mit dem Finger eine Erdbeere aus dem fast leeren Marmeladenglas gefischt – etwas, das ich seit Ewigkeiten tat und das sie immer nur mit ihrem sanften Lächeln und einem erhobenen Zeigefinger kommentiert hatte. In den darauf folgenden Wochen und Monaten wurde es immer schlimmer. Sie stritt häufig mit Dad und ich hörte, wie sie sich gegenseitig anschrien. Mommy schlug mich immer öfter, später sogar ohne besonderen Anlass. Und sie lachte.
Als ihr das nicht mehr reichte, begann sie, mich zu quälen.
Sie fesselte mich an mein Bett und sah stundenlang zu, wie ich mich vor Durst wand, wie ich weinte, bettelte und flehte.“
„Fuck! Das ist ja furchtbar!“ Noah nahm Nancys Hand und streichelte sie.
„Eines Tages ging Dad mit mir fort. Ich sah Mommy nie wieder. Immer wieder fragte ich ihn, wo sie sei, denn ich vermisste sie trotz allem. Ich vergaß auch fast, was sie mir angetan hatte, wollte nur an die schönen Jahre mit ihr denken. Irgendwann, ich glaube, ich war neunzehn, gestand Vater es mir. Er sagte, dass er sie töten musste.“ Nancy schluckte hörbar. „Er erzählte mir, dass er ein Vampir sei und bestätigte, was ich schon lange wusste. Er sagte, dass er mehrere Jahrhunderte alt ist. Und dass er sich seit langer Zeit nach einer Partnerin sehnte, die für immer an seiner Seite bliebe. Er wusste nicht, wie alt er werden würde, doch er sah noch immer aus wie ein 35-Jähriger. Beinahe, seit er denken konnte, wie er mir anvertraute. Er alterte nicht. Doch seine Partnerinnen schon, sofern es Menschenfrauen waren.“
Noah lachte gegen seinen Willen auf. „Warum hat er sich dann nicht einfach eine Vampirin gesucht?“
„Weil er mit ihnen keine Kinder zeugen konnte. Er kniete vor mir nieder und bat mich um Verzeihung. Er habe meine Mutter über alles geliebt und sich mit ihr seinen größten Wunsch erfüllt: ein Erbe seines Fleischs und Bluts. Es gab keine Frau mehr in seinem Leben nach Mommy.“ Nancy schnaubte. „Er hatte sich das anders vorgestellt, glaubte, dass sein Nachwuchs auch unsterblich sei. Doch ich entwickelte mich nicht wie erhofft. Ich bekam Kinderkrankheiten, brach mir einmal sogar ein Bein. So fand er heraus, dass ich ein normaler Mensch bin.“
Als Noah das Schweigen zu lange dauerte, fragte er nach: „Warum hat er deine Mutter getötet?“
„Weil sie verrückt geworden ist. Und
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