Blutsvermächtnis (German Edition)
Ihre Gedanken flossen zäh wie Teer und versickerten in seiner Schwärze.
Die Fahrt zog sich in die Länge. Ohne Uhr vermochte Nevaeh nur vage einzuschätzen, wie viel Zeit verstrich. Es kam ihr vor, als wären sie seit mindestens einer Stunde unterwegs. Der Lieferwagen besaß keine Scheiben, nur zwei Rückbänke ohne Abtrennung nach vorn. Sie rutschte weiter in die Mitte, um zwischen den Vordersitzen hindurch aus der Frontscheibe zu blicken. Der Fahrer, einer der Men in Black, bog von der Landstraße ab. Sie fuhren durch einen Wald und passierten ein Tor in einer hohen Mauer. Fast geräuschlos kam der Wagen nach einigen Dutzend Yards zum Stehen. Korhonen öffnete die Schiebetür. Wütendes Bellen gellte in ihren Ohren und Furcht kroch ihr in den Nacken.
„Kommen Sie, Ms. Morrison.“
Korhonen fasste sie am Ellbogen. Ein Befehl stoppte das Gebell, ein Mann in Livree stand in der geöffneten Tür eines imposanten Eingangsportals.
Der DPA-Leiter führte sie Stufen hinauf zu einem schlossähnlichen Gebäude, das sich konträr zum Baustil der zahlreichen Meisterwerke der Villenarchitektur in Los Angeles und Umgebung in einem parkähnlichen Gelände erhob.
Der Bedienstete verneigte sich und wies mit einer behandschuhten Hand nach innen. Sein Bild ähnelte Crichton, doch Nevaeh verdrängte die Erinnerung.
Korhonen schob sie voran.
Die Eingangshalle lag im Halbdunkel, zahllose Spiegel verstärkten das durch zwei schmale, bodentiefe Fenster einfallende Tageslicht. Es reichte nicht, das Foyer bis in alle Winkel zu erhellen. Ein Gefühl, dass hier etwas merkwürdig sein musste, schlich empor. Selbst wenn der Psychologe eine noble Privatpraxis unterhalten mochte, schien die Location unangebracht. Wo war der Empfang? Die Arzthelferinnen, die normalerweise hinter einer Theke saßen.
Nevaeh hörte Schritte. Sie drehte sich in die Richtung, aus der sie klangen. Ein Mann stieg eine gewundene Treppe herab. Als er vor ihr stand und seine Hand zur Begrüßung ausstreckte, streifte ein undefinierbares Gefühl ihre Sinne. Sie vermochte es nicht in Worte zu fassen, es lag irgendwo zwischen Angst und Ehrfurcht, zwischen Faszination und Widerwillen, Vertrauen und Skepsis. Als wollte sich ihr Verstand nicht auf einen bestimmten Eindruck festlegen.
Korhonen trat einen Schritt zur Seite. „Dr. Fields.“ Er nickte dem Mann zu. „Ms. Nevaeh Morrison.“
„Darf ich Sie gleich in den Therapieraum führen? Bitte folgen Sie mir.“ Fields wandte sich um und ging voran.
Nevaeh stolperte beinahe über ihre Füße, als Korhonen sie vorwärtsschob. Ihre Beine wollten sich nicht freiwillig in Bewegung setzen. Eine imaginäre Schlinge aus Gummi legte sich um ihren Körper und zog sie hinter dem Psychologen her. Er öffnete eine Tür und ließ ihr den Vortritt. Die Männer unterhielten sich leise. Nevaeh ging ein paar Schritte zurück, um den Worten zu lauschen, da schloss Fields bereits die Tür und Korhonen blieb zurück.
„Mr. Korhonen wird Sie nach Ende der Sitzung abholen. Er wartet draußen.“ Fields trat auf sie zu. „Kommen Sie.“ Er führte sie mit Nachdruck voran.
Erst jetzt musterte Nevaeh den Raum. Ein riesiger Mahagoni-Schreibtisch beherrschte die rechte hintere Raumecke, dahinter standen über Eck deckenhohe Bücherregale, die sich unter ihrer Last bogen. Links vor den mit schweren Brokatvorhängen zugezogenen Fenstern stand ein Sessel und daneben eine bequem wirkende Liege. Warum nur erhärtete sich die Vermutung, dass die Einrichtung erst kürzlich zusammengestellt worden war? Zumindest, was diesen Raumbereich betraf. Ihr Blick glitt über den seidenen Teppich und eine Gänsehaut breitete sich bis zu den Zehenspitzen aus, als sie die Abdrücke von Möbelfüßen entdeckte, jedoch nicht die dazugehörigen Stücke.
Sie wollte auf dem Absatz kehrtmachen und die Flucht ergreifen, doch das Gummi hielt sie gefangen und verklebte mittlerweile sogar ihren Geist. Es gelang ihr nicht einmal ein leises Stöhnen, geschweige denn ein gellender Hilferuf. Nevaeh sank auf die Liege. Wie ferngesteuert legte sie sich auf den Rücken.
„Nevaeh.“
Die persönliche Anrede rührte an etwas in ihrem Inneren. Kannte sie die Stimme? Ihr fielen die Augen zu.
„Nevaeh, ich möchte dich dahin führen, deine Kräfte zuzulassen.“
Nein! Genau das wollte sie nicht. Hatte sie nicht hergebracht werden sollen, damit man ihr half, sich weiter unter Kontrolle zu halten? Sie sollte ihre Entscheidung selbst fällen dürfen. Sie wollte nicht zu
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