Blutsvermächtnis (German Edition)
blinzelte gegen das Sonnenlicht. In dem offenen Jeep hatte Varela seinen Arm um Nancy gelegt. Mit der anderen Hand schien er ihre Brüste zu kneten.
Nancy war ihm suspekt geworden. Die Geschichte ihrer Kindheit rief Mitleid hervor und er glaubte auch nicht, dass sie gelogen war. Diesen Eindruck hatte Nancy beim Erzählen nicht abgegeben. Aber sie verheimlichte etwas. Sie log an anderer Stelle, das spürte er. Sobald sie nachher wieder in der Stadt ankamen, würde er ihr begreiflich machen, dass sich ihre Wege trennten.
Ein Windzug wirbelte Sand vor Noahs Füßen auf. Ein Gegenstand, der unnatürlich gerade aus dem Boden stach, weckte seine Aufmerksamkeit. Er bückte sich, griff danach und hielt einen Bleistift in der Hand. Ob er von Nevaeh stammte? Das angekaute Ende deutete darauf hin. Offenbar hatte Varela sie nicht an einen falschen Ort geführt – dies konnte in der Tat der Standort des Camps sein. Ein Stich fuhr ihm in den Magen. Könnte er doch nur die Uhr um wenige Wochen zurückdrehen – da hatte Dad noch quicklebendig hier verweilt.
Er ließ den Blick noch intensiver umherschweifen, wühlte erneut im Sand, fand jedoch nichts weiter als Steine. Die Hitze entlockte ihm ein Schnaufen. Trotz seiner glühenden Haut überfuhr Noah ein kalter Schauder. Blitzte dort nicht etwas zwischen den Felsen? Er trat dichter an den Brocken heran und streckte einen Arm aus. Noah zuckte zurück, seine Fingerspitzen hatten Metall ertastet. Es glühte. Er riss sich das T-Shirt über den Kopf, wickelte es um seine Hand und griff erneut zu. Dieses Mal zog er eine Armbanduhr aus dem Felsspalt. Nevaehs Uhr, ein Geschenk von Dad, bei dessen Auswahl Noah geholfen hatte.
Etwas Hartes bohrte sich in seinen Rücken.
„Fallen lassen und zurücktreten. ¡Arrea!“
Los Angeles – Kalifornien
N ie zuvor hatte Nevaeh einen solchen Durst verspürt, nicht einmal, als man sie in Santiago in diesem Rattenloch hatte verrotten lassen. Sie versuchte, die Arme zu bewegen und erst zu spät erinnerte sie sich, dass ihre Handgelenke in stählernen Schellen am Bettrahmen gefesselt waren. Ein schmerzhafter Ruck fuhr durch ihre Gelenke.
Sie stöhnte und riss den Kopf nach oben, was ihr ein Gefühl vermittelte, als schwappte ihr Gehirn im Schädel hin und her. Ihre Wahrnehmung verschob sich – der Raum mit den weißen Wänden schien zu verrutschen und ein anderes Zimmer schob sich in ihr Blickfeld. Gelbe Wände mit kleinen blauen Sternen und Monden. Die Bilder mischten sich ineinander, verschmolzen und bildeten unförmige Strukturen, bis das gelbe Zimmer die Oberhand gewann.
Es war kalt. Eiskalt. Ihr Zittern geriet zu einem Schütteln, das ihren ganzen Körper erfasste und Arme und Beine unkontrolliert schlackern ließ. Nicht einmal das Betttuch im Rücken spendete Wärme, es war nass und klebte an ihr.
Ein Windzug aus dem sperrangelweit geöffneten Fenster strich ihr über die von kaltem Schweiß überzogene Haut. Sie roch den Schnee, der in das Zimmer rieselte, und hörte das leise Kichern. Die Stimme klang so vertraut und doch so fremd.
„Mommy.“ Sie flüsterte so leise, dass ein leichtes Rascheln ihr die Stimme raubte.
„Mommmy!“ Ihre Lippen rissen auf, als sie bei den M-Lauten aneinander festklebten. Sie schmeckte Blut und leckte es gierig auf, um wenigstens etwas Feuchtigkeit zu erhaschen. Der Geschmack ließ sie würgen.
Mommy.
Das Lachen sprengte fast ihren Schädel. Laut. Infam.
Dann wich die Grausamkeit erlösender Liebe. Mommy beugte sich über sie und umhüllte sie mit einer warmen Decke. Sie flüsterte in ihr Ohr.
„Mein armer Liebling, komm.“
Glück flutete ihre Sinne, betäubte die Schmerzen. Mommys Hände rubbelten ihre Arme, ihre Beine, ihren Oberkörper. „Daddy kommt bald nach Hause und wir wollen doch nicht, dass er dich so sieht, nicht wahr?“
Sie schluchzte auf.
„Komm, gleich wird dir wieder warm werden.“
Mommy drückte ihr eine Puppe in die Hände. Ihre Lieblingspuppe, die Dad von seiner letzten Reise mitgebracht hatte. In letzter Zeit war er noch viel häufiger unterwegs als früher und die Abstände, bis er wieder nach Hause kam, wurden immer länger. Oder glaubte sie das nur? Zogen sich die Tage nur so in die Länge, weil ihr Hunger und ihr Durst immer größer wurden?
Nach dem Baden und Essen brachte Mommy sie in das Wohnzimmer, setzte sie auf das Sofa und legte ihr eine Decke um. Dann schaltete sie den Fernseher ein und suchte ein Kinderprogramm.
„Schön lachen, wenn Dad kommt, nicht
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