Blutsvermächtnis (German Edition)

sie, die Schublade weiter zu öffnen. Fragen drangen in ihre Ohren und sie vermochte sich nicht gegen eine Beantwortung zu wehren. Vehement stemmte sie sich gegen das Diktat, doch sie unterlag mit einem Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung.
    Erneut schoben sich Eindrücke wie ein Spielfilm in ihre Gedanken. Dieses Mal wusste sie, dass sie Nancy sah. Sie saß in einem Fahrzeug. Sie weinte. Ihre Schultern zuckten und eine männliche Hand griff nach ihren Fingern, hielt sie umklammert. Die Bilder rasten, als wäre die Schnelllauftaste gedrückt worden. Selbst die Stimmen klangen wie von einem zu schnell abgespulten Tonband. Stopp! Der Befehl kam nicht von ihr.
Er sucht das Gen der Unsterblichkeit
. Surren, Schnelldurchlauf. Stopp!
Was ging schief?
    Nevaeh konzentrierte ihre Kraft. Sie stemmte sich gegen die Eindrücke und plötzlich sah sie nur noch Schwärze. Keine Bilder, keine Stimmen.
    „Ich befehle dir, mach weiter!“
    Farben und Formen flackerten hinter ihren Lidern. Sie spürte die Lähmung ihres Willens, doch der Film fuhr nicht erneut ab. Die Sekunden verrannen, begleitet von dem Ticken einer Uhr.
    „Bringt sie in ein Schlafzimmer.“ Korhonen erhob sich. „Schön, dass Sie sich zur Zusammenarbeit entschieden haben, Mr. Fields.“
    Nevaeh wollte sterben. Was war das für ein Höllenmittel, gegen das sie sich nicht wehren konnte? Trotz der Benommenheit hatte sie gespürt, wie Fields diesmal problemlos in ihren Geist eingedrungen war, um ihre Gedanken zu lesen und auch, wie er sich jetzt wieder zurückzog.
    Sie öffnete die Augen und suchte seinen Blick, warf ihm flehende Botschaften zu, doch er reagierte nicht.
    „Nehmt ihn gleich mit. Ich hole währenddessen die Köter rein.“
    Grauen durchlief Nevaeh von den Haarspitzen bis in die Zehenspitzen. Was beabsichtigte er? Wusste er von ihrer Angst? Glühende Lava schoss durch ihre Adern. Jayden. Er wusste, dass sie eine Todesangst vor Hunden hatte, seit … oh Gott, sie wollte sich nicht erinnern, doch die Nachwirkungen des Medikaments rissen den Film gnadenlos aus der Gedankenschublade.
    Sie sah sich auf dem Schlitten sitzen, das kleine Mädchen mit den Locken und dem weiß-gelben Schneeanzug. Tante Kari, die Cousine ihrer Mom, hob ihre Tochter vor ihr auf den Schlitten und sie schmiegte sich an deren Rücken und umschlang das Mädchen mit den Armen. Es zuckte zusammen, und Nevaeh wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Sie ließ etwas lockerer. Tante Kari zog sie an dem Schlitten hinter sich her einen kleinen Hügel hinauf. Oben drehte sie das Gefährt, beugte sich hinab zu dem Mädchen und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Nevaeh verstand es nicht, dafür erhaschte sie einen Blick in Tante Karis Augen. Das wunderschöne Himmelblau wich für eine Sekunde einem Glutgelb, und aus geschlitzten Pupillen stach das Böse hervor. Nevaeh schrie. Sie kreischte den ganzen Weg bis an den Fuß des Hügels, konnte sich nicht beruhigen, bis Dad sie in seinen ausgebreiteten Armen auffing. Das fröhliche Lachen und Johlen war nicht aus ihrer Kehle gekommen, sondern nur aus der des anderen Kindes. Als Dad sie mit seinem Schutz umfing, fiel ihr Blick auf den Jungen im Schatten der Holzhütte. Jason, von dem sie geträumt hatte, dass er seinen Hund auf Jannik hetzte und zusah, wie sein kleiner Bruder auf das Eis des Ranuajärvi-Sees lief.
    „Bewegung, Ms. Morrison. Schlafen können Sie später.“ Die Men in Black packten Nevaeh an den Oberarmen und schleiften sie hinaus.
    21 Schlafmittel (Hypnotikum) mit schnellem
Wirkeintritt und 5 bis 15-minütiger Wirkdauer,
auch als Wahrheitsserum bekannt geworden.

San Pedro de Atacama, Chile
    „W arum?“
    Noah schrie Nancy an und wusste doch, dass seine Wut in die falsche Richtung ging. Sie hatte nicht eingestanden, Jayden zu dem gemacht zu haben, was er war. Es gab keinen Grund, sie anzu-brüllen für etwas, das angeblich ihr Vater zu verantworten hatte.
    Vampire … sein Verstand weigerte sich, an Horrorgestalten zu glauben. Vehement blieb Jay…sons Bild an seinem inneren Auge haften. Wie hieß der Mann, den er liebte, eigentlich? Das Verwirrspiel gab ihm Rätsel auf. Die Stimme, die Bewegungen, der Geruch – selbst die Phobie hatte gepasst. So viele Zufälle konnten nicht auf einen Doppelgänger zutreffen. Im Grunde spürte Noah, dass er keinen Fremden vor sich gehabt hatte, sondern in der Tat seinen Lebenspartner. Und die Verwandlung in ein geiferndes Monster … Jasons entstelltes Gesicht, die glühenden Pupillen, die