Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
der Maresciallo den Capitano zu unterstützen.
Aber die Frau ließ ihn gar nicht erst ausreden. Das Blut kochte ihr in den Adern.
»Sie können jetzt gehen«, sagte sie. »Meine Tochter und ichwerden hier und nirgendwo anders bleiben. Richten Sie Signor Prestipino aus, Capitano, dass er für uns nicht mehr existiert. Wir haben ihn von heute an aus unserem Leben gestrichen.«
Ihr Blick war jetzt aus Eis. Foti wollte etwas sagen, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
»Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen, Capitano. Verschwenden Sie nicht meine Zeit – und Ihre auch nicht, Sie haben bestimmt Wichtigeres zu tun.«
»Ich werde es ihm ausrichten. Aber Sie begehen einen Fehler.«
»Es steht Ihnen nicht zu, darüber zu urteilen. Sie von den Carabinieri müssen Ihre Arbeit tun und basta. Hier hat nur einer einen Fehler begangen – er.« Diesmal sprach sie noch nicht einmal mehr seinen Namen aus. Ihr Ehemann war zu »ihm« geworden. »Er existiert nicht mehr für uns«, unterstrich sie noch einmal eisig.
Der Capitano und der Maresciallo wechselten einen Blick. Keiner von beiden hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet. Selbst nicht der Maresciallo, der doch als Kommandant dieser Station mit der Mentalität der Einheimischen vertraut war.
Angela Fedeli brachte sie zur Tür.
Eiligen Schrittes.
Wieder lag diese Grabesstille in der Luft.
Angela handelte schnell.
Sie warf sich eine alte Wolljacke über und verließ das Haus.
Atemlos.
Sie traf ihn vor dem Kamin an.
Die Stimme von »Big Luciano«, der Nessun dorma aus Turandot sang, erfüllte das Zimmer:
Ma il mio mistero è chiuso in me,
il nome mio nessun saprà!
…
Dilegua, o notte! Tramontate, stelle!
Tramontate, stelle! All’ alba vincerò!
Vincerò! Vincerò!
Sie sah ihn die schwere Feuerzange mit beiden Händen packen und die Holzscheite umschichten, den Kopf ein wenig nach hinten geneigt, um der Hitze der Flammen auszuweichen. Das Feuer flackerte plötzlich stärker auf und verbreitete einen hellen, lebhaften Schein.
Angela Fedeli dachte daran, wie sie als kleines Mädchen auf den Knien ihres Vaters vor dem Kamin gesessen und ihn gebeten hatte, die Glut unter dem Holz schüren zu dürfen. Sie hörte wieder seine Worte: »Angela, geh nicht zu nahe heran, das Feuer ist hinterlistig, es täuscht uns.«
Don Ciccio Puglisi drehte sich um. »Setz dich, Angela«, sagte er und zeigte auf einen Sessel vor dem Kamin. Er ließ sich in dem zweiten Sessel nieder, nachdem er das Radio ausgeschaltet hatte.
»Don Ciccio …«
»Lass uns einen Kaffee trinken, Angela. Er ist gerade fertig.«
»Danke, Don Ciccio.«
»Grazia, Grazia, du kannst jetzt den Kaffee bringen! Und noch eine Tasse!«, rief er seiner Frau zu, die nach ein paar Minuten aus der Küche nebenan hereinkam.
»Ach, sieh mal an, Angela … Ich wusste nicht, dass du heute vorbeikommen würdest.«
»Entschuldigen Sie bitte, Signora Grazia, dass ich mich nicht vorher angekündigt habe.«
»Aber was redest du da, Angela? Mach dir keine Gedanken, du bist doch hier zu Hause.«
»Danke.«
»Und jetzt trinkt euren Kaffee.«
Die Espressokanne dampfte noch. Im Wohnzimmer war für eine ganze Weile nur das Klappern der Löffel zu hören, die den Zucker in den Tässchen umrührten.
»Was ist der Grund für deinen Besuch, Angela?«, fragte der alte Mann endlich, während er seine Tasse, die er mit einem Schluck ausgetrunken hatte, auf dem Tisch abstellte.
Angela gab einen tiefen Seufzer von sich und berichtete ihm von der Begegnung mit dem Maresciallo in Begleitung des Capitano.
»Don Ciccio, Alfredo Prestipino hat sich als ein Verräter erwiesen, als schändlich und nichtswürdig. Nun bin ich zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Tagen in Trauer.« Ihr Gesicht sprach Bände: Verachtung und Scham für den, der die Werte verraten hatte, an die sie immer fest geglaubt hatte. Ja, auch sie, obwohl sie eine Frau war, hatte stets auf die Regeln der »Familie« vertraut, auch wenn sie im Gegensatz zu ihrem Bruder Rocco keinen förmlichen Schwur abgelegt hatte.
Es handelte sich um unumstößliche Lebensregeln, festgeschrieben schon in ihrer DNA und stärker als jede andere menschliche Regung, einschließlich der Gefühle für ihren Mann.
Ein Kennzeichen der Frauen der ’Ndrangheta.
Sie hatte von jeher über die Aktivitäten der ›Familie‹ Bescheid gewusst. Hatte an ihren Plänen und Ambitionen Anteil genommen. Im Stillen. Ohne sich je öffentlich dazu zu äußern. Noch nicht einmal im Kreis
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