Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
sich auf den Weg.
Das Haus der Mutter war ein sehr altes Steinhaus, umgeben von einem kleinen Gemüsegarten. Der Maresciallo läutete.
»Wer ist da?«, hörten sie nach einer Weile eine jüngere Frauenstimme fragen.
»Carabinieri! Ich bin der Maresciallo. Ich muss mit Signora Angela Prestipino sprechen.«
»Warten Sie einen Moment.«
Es dauerte wieder eine Weile, dann hörten sie ein Schnappen, und die zweiflügelige Holztür ging auf. Sie traten ein.
Angela erwartete sie an der Schwelle. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, Bluse, Rock, Seidenstrümpfe, um die Schultern eine Wollstola. Sie musterte die Männer eindringlich, wie um aus ihrer Haltung oder Miene schon auf den Grund ihres Besuchs schließen zu können, bevor sie ihn nannten.
»Signora«, begann der Maresciallo, »das hier ist Capitano Foti. Er kommt aus Reggio Calabria und steht im Dienst der DIA . Er muss mit Ihnen sprechen. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit?«
Die Frau starrte sie weiter an. Ihr durchdringender Blick verweilte bei Foti.
Der Capitano machte einen Schritt auf sie zu und gab ihr die Hand. Sie nahm sie, ihr Händedruck war sehr fest für eine Frau.
»Kommen Sie herein«, sagte sie schließlich widerstrebend.
Sie ging ihnen voraus.
Nach einem kleinen Flur, an dessen Wänden wenige Möbelstücke aufgereiht standen, kamen sie zu einer geschlossenen Tür. Die Frau öffnete und ließ sie im Wohnzimmer Platz nehmen, indem sie auf das Sofa zeigte. Sie setzten sich, während sie mit verschränkten Armen stehen blieb. An den Wänden hingen keine Bilder und noch nicht einmal Fotos. Sie waren völlig kahl, unpersönlich. Nur mitten auf dem Couchtisch befand sich ein noch ungerahmtes Foto, das die drei ermordeten Brüder zeigte. Davor stand ein brennendes Grablicht.
»Wer ist das, Angela?«, schrie in diesem Moment jemand von der Hintertür her, durch die man offenbar in den Garten gelangte.
»Niemand, Mama. Es ist für mich. Mach dir keine Sorgen.« Angela Prestipino strich sich mit einer Hand über die Haare.
»Warum wollen Sie mit mir sprechen, Capitano? Geht es vielleicht um meinen Mann?«, fragte sie dann.
»Ja. Es gibt etwas, das Sie wissen müssen.«
Ihre gleichmütige Miene wurde kurz von so etwas wie einer Gefühlsaufwallung durchzuckt. Doch nur ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte das bemerkt.
»Was haben Sie mir zu sagen?«
»Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Mann mit uns zusammenarbeitet, das heißt mit uns und der Staatsanwaltschaft.«
»Zusammenarbeitet? Was soll das heißen?«, fragte die Frau aggressiv und nahm eine noch aufrechtere Haltung an. Ihre Stimme klang plötzlich viel kraftvoller, und auch ihr Blick war verändert. Voller Zorn. Sie bückte sich, hob ihren heruntergefallenen Schal auf und legte ihn sich wieder um die Schultern.
»Wir haben ihn vergangene Nacht befreit«, erklärte Foti.
»Befreit?«
Sie klang ungläubig.
»So ist es. Er war entführt worden. Nun hat er sich entschieden zu kollaborieren. Er ist an einem sicheren Ort, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie und Ihre Tochter werden wir ebenfalls in Sicherheit bringen, zusammen mit ihm …«
»Nein, nein, nein!«
Es wurde totenstill im Zimmer.
Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und starrte den Capitano an, als wollte sie ihn mit ihrem Blick vernichten. Was sie befürchtet hatte, war eingetreten. Die Wahrheit, nach der sie ihren Mann vergebens gefragt hatte, war endlich ans Tageslicht gekommen. Ein Verräter, das war er! Heftige Rachegelüste überfielen sie, doch sie beherrschte sich. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr so etwas Schreckliches passieren könnte. Ausgerechnet ihr , einer Fedeli .
»Alfredo Prestipino ist tot!«, rief sie dann, und diese Reaktion traf den Capitano wie ein Schlag ins Gesicht.
»Signora, Ihrem Mann geht es gut, er wartet auf Sie beide in unserer Dienststelle.«
»Capitano, Sie verstehen gar nichts. Oder tun Sie nur so? Wenn es stimmt, was Sie sagen, ist Alfredo Prestipino verrückt geworden. Und mit einem Verrückten will ich nicht zusammenleben. Verrückte gehören ins Irrenhaus, zu ihresgleichen. Für mich ist er gestorben. Er existiert nicht mehr, auch nicht für meine Tochter.« Sie betonte jedes einzelne Wort ihres vernichtenden Urteils.
»Aber nein, Signora, Ihr Mann ist nicht verrückt. Er will ein neues Leben anfangen, zusammen mit Ihnen beiden. Er hat die richtige Wahl getroffen, glauben Sie mir, kommen Sie mit …«
»Er hat recht, Signora …«, versuchte
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