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Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)

Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Giuttari
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ihrer engsten Freundinnen. Sie war mit dem Gesetz der Omertà aufgewachsen und mit der Überzeugung, dass es andere, wichtigere Gesetze gab als die des Staates. Gesetze, die das Vorrecht einer besonderen Gesellschaft waren. Einer Gesellschaft, die aus echten Männern bestand: Männern von Ehre. Wie es ihr Vater und ihr Bruder Rocco gewesen waren.
    Don Ciccio blickte in die Flammen, die an den Holzscheiten leckten wie entfesselte Feuerzungen. Dann wandte er sich ihr zu. Sah ihr gerade in die Augen. Vielleicht, um ihr Vertrauen einzuflößen. Mit leicht belegter Stimme, aber sehr freundlich sagte er: »Meine Tochter, du hast nichts mit dieser Angelegenheit zu tun. Du hast dich verhalten, wie es sich gehört, die einzig richtige Reaktion für eine ehrenhafte Frau. Auch für mich ist Alfredo Prestipino gestorben. Er hat sich entschieden, einsam zu sterben. Schlimmer noch, er existiert für die ganze ›Familie‹ nicht mehr. Du bist noch jung. Du musst an deine Tochter und an deine Mutter denken, deine wahren Blutsverwandten.«
    Sie nickte. Gern hätte sie ihn gefragt, warum er ihnen keinen Beileidsbesuch abgestattet hatte, unterließ es aber. Jetzt war nicht der richtige Moment dafür. Jetzt hatte sie für die Gegenwart Sorge zu tragen und vor allem für die Zukunft.
    »Ihr habt recht, Don Ciccio. Mir sind nur meine Tochter und meine Mutter geblieben, die so viel leidet. Ich werde sie nicht alleinlassen. Sie ist immer noch eine starke Frau, aber sie wird ihres Schmerzes nicht mehr Herr. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, sehe ich, wie ihr die Tränen übers Gesicht laufen. Es ist zwecklos, sie mit einem Taschentuch zu trocknen.«
    »Du und die deinen, ihr habt meinen Segen, Tochter … und auch meine Achtung«, erklärte der alte Boss mit kaum hörbarer Stimme.
    »Ich werde dieses Kreuz tragen, Don Ciccio. Aber ich bin eine Fedeli und werde es immer bleiben. Ich möchte, dass Ihr das wisst. Nie werde ich vergessen, wie sehr Ihr meinen Vater respektiert habt und wie sehr er Euch respektiert hat. Ihr wart unzertrennlich …«
    Der Boss nickte, sein Blick schien sich in der Vergangenheit zu verlieren.
    Ihr entging dieser Ausdruck nicht, verschleiert von Traurigkeit oder vielleicht auch nur Sentimentalität. Wer wusste das schon? Sie beugte sich vor wie eine treue Untertanin, nahm seine rechte Hand und drückte ihre Lippen darauf.
    »Auch ich werde Euch immer Respekt erweisen, Don Ciccio«, flüsterte sie mit zittriger Stimme, wobei ihr Herz noch heftiger schlug.
    Don Ciccio erhob sich langsam aus seinem Sessel, indem er sich auf seinen Stock stützte. Sie stand ebenfalls auf. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich, als wäre sie wirklich seine Tochter.
    »Angela, Ihr seid eine Frau, wie sie sein soll«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er benutzte die respektvolle Anrede »Ihr«. Zum ersten Mal. Voller Stolz bemerkte sie es.
    »Danke, Don Ciccio. Ich werde Eure Worte nie vergessen. Ihr wart wie ein Vater für meinen Bruder Rocco. Ein Vater, der auch zu bestrafen weiß, wenn die Gerechtigkeit es erfordert …« Sie unterbrach sich und sah dem alten Mann wieder in die Augen. »Und Ihr werdet auch ein Vater für mich sein. In meinem Herzen seid Ihr es von jeher gewesen.«
    »Ihr könnt auf mich bauen, Angela. Immer. Solange ich lebe und darüber hinaus. Die Familie wird Euch nicht imStich lassen. Das dürft Ihr nie vergessen. Wann immer Ihr etwas braucht, die Familie wird für Euch da sein. Auch wenn ich nicht mehr da bin. Die Vergangenheit, alles , was war – versteht Ihr mich? –, zählt nicht mehr. Jeder von uns kann Sünden begehen, doch entscheidend ist, wie man über sie richtet … und wer über sie richtet.«
    »Nein, Don Ciccio, redet nicht so. Die Madonna d’ Aspromonte wird immer ihre schützende Hand über Euch halten, Ihr werdet gewiss über hundert Jahre alt werden! Ihr habt Euch keiner Sünde schuldig gemacht, und ich kann das beurteilen, denn mein Herz ist ein guter Richter und hat mich noch nie getrogen.«
    Der alte Mann lächelte, wobei seine wenigen, völlig vergilbten Zähne zum Vorschein kamen. Kurz darauf brachte er sie zur Tür. Angela Fedeli ging. Sie fühlte sich müde, aber ihre Nerven waren immer noch zum Zerreißen gespannt. Das schlimmste Unglück, schlimmer noch als der Tod, hatte sie getroffen: so viele Jahre mit einem Verräter zusammengelebt zu haben. Sie häufte Zorn auf Zorn, Hass auf Hass. Und dann nur noch Hass, nichts als Hass.
    Sie wusste, dass es allein im

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