Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)

Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Giuttari
Vom Netzwerk:
Ermessen Don Ciccios lag, über Tod oder Leben nicht nur seiner Getreuen, sondern auch ihrer Familien zu verfügen. War es ihr gelungen, ihn zu überzeugen? Ihr Leben, das ihrer Mutter und Marias zu retten? Auf dem ganzen Heimweg stellte sie sich vergeblich diese Frage. Nur in einem Punkt war sie sich ganz sicher. Sie hätte Alfredo Prestipino am liebsten eigenhändig umgebracht.
    In diesem Augenblick sah sie vor ihrem geistigen Auge die Leiche des Verräters, durchbohrt von zahlreichen Messerstichen, mitten auf der Piazza von San Piero liegen.

    Sie stand in dem Ruf, eine aufmerksame Beobachterin zu sein.
    Grazia hatte nur Angelas Körpersprache zu lesen brauchen, als sie den Kaffee brachte, um den wahren Grund ihres Besuchs zu erkennen. Sie hatte die Küchentür angelehnt gelassen und ihren Eindruck von dem einen oder anderen mitgehörten Satz bestätigt bekommen. Sobald Angela Fedeli das Haus verlassen hatte, war sie in eine Ecke ihrer Küche gegangen.
    In einer kleinen Nische stand dort eine Figur der Madonna d’Aspromonte, davor, auf einer Konsole, eine Vase mit frischen Blumen. Sie hatte sie am Morgen im Garten gepflückt. Jeden Morgen nach dem Aufstehen kam sie dieser Aufgabe nach, einem kleinen Ritual: die verwelkten Blumen wegwerfen, das Wasser austauschen, die frischen hineinstellen, für ihre Gesundheit und die ihres Mannes beten und auch für manch anderes …
    Sie kniete nieder, bekreuzigte sich und heftete den Blick lange auf die Statuette. Sie war so perfekt, so lebensecht. Dann versenkte sie sich ins Gebet.
    »Mein Mann hat sich immer für ihn aufgeopfert, und das war sein Dank. Wir hoffen darauf, dass du, oh Madonna, ihn bestrafst«, murmelte sie. Wieder bekreuzigte sie sich.
    Dann betete sie das Mea culpa , das Sündenbekenntnis.

    Er stand wieder vor dem Kamin.
    Als das Feuer kräftiger zu prasseln begann, ließ sich Don Ciccio Puglisi in seinen Sessel fallen.
    Er schloss die Augen.
    Und die Vergangenheit wurde wieder lebendig.

    Wallfahrtskirche der Madonna d’Aspromonte, September 1981. Ein besonderer Anlass: die Hundertjahrfeier der festlichen Krönung der Madonna. Dazu waren womöglich noch mehr Gläubige als in den Vorjahren angereist. Aus allen Teilen Kalabriens. Aber auch aus dem Ausland. Sogar aus Übersee. Australien. Amerika.
    Die Versammlung wurde um einen großen Holzklotz herum in einem dichten, nachtfinsteren Wald abgehalten, der nur ein paar Hundert Meter Luftlinie von der Kirche entfernt lag.
    Währenddessen vergnügten sich die Pilger: einige an den schnell aufgebauten Schankbuden unter den hundertjährigen Kastanienbäumen, andere beim Tanzen auf den Lichtungen zu den Klängen von Sackpfeifen und Trommeln, wieder andere beim Singen von Marienliedern.
    Wie jedes Jahr.
    Rocco Fedeli, der gerade achtzehn geworden war, stand inmitten eines Kreises aus sechs Männern.
    Er, Don Ciccio, verkündete feierlich:
    »Noch vor der Familie, den Eltern, den Brüdern und Schwestern, kommt die Ehre der Gesellschaft, die von nun an Eure Familie sein wird. Solltet Ihr Verrat gegen sie begehen, werdet Ihr mit dem Tode bestraft. So wie Ihr der Gesellschaft Treue erweist, so wird sie Euch Treue erweisen und Euch bei Bedarf beistehen. Der Schwur, den Ihr nun leisten werdet, kann nur durch den Tod aufgehoben werden. Seid Ihr bereit?«
    »Ja.«
    »Dann schwört.«
    »Ich schwöre vor dieser Gesellschaft, meinen Kameraden treu zu sein und, wenn es nötig ist, Vater, Mutter, Schwestern und Brüder zu verleugnen, selbst mein eigen Fleischund Blut. Falls ich Verrat begehe, soll mein Leib brennen, wie dieses Bild brennt …«
    Das flammende Bild in seinen Händen war ein Heiligenbild des Erzengels Michael.
    »Jetzt gehört Ihr zur Familie. Von diesem Moment an dürft Ihr die Frauen unserer Freunde nicht begehrlich ansehen, dürft keine Freundschaft mit Bullen schließen oder, schlimmer noch, gemeinsame Sache mit ihnen machen, Ihr müsst Euch stets zur Verfügung halten …«
    »Ich werde das immer beherzigen, Don Ciccio.«
    Die Stimme des Jungen bebte vor aufrichtiger Ergriffenheit.
    »Komm näher.«
    Don Ciccio umarmte ihn fest und küsste ihn viermal auf beide Wangen. Anschließend umarmte Rocco, von links beginnend, die anderen und küsste jeden zweimal.
    Das war der letzte Akt der Zeremonie.
    Rocco Fedeli war ein Picciotto geworden, ein Jungmafioso auf der untersten Stufe der Hierarchie. Ein »Ehrenmann«. Wie sein Vater. Und davor sein Großvater. Geachtet und gefürchtet.

    Das Klingeln des Telefons

Weitere Kostenlose Bücher