Blutsverwandte: Thriller (German Edition)
Carrie.
»Das ist leicht«, erwiderte Genie. »Überlass das mir.«
»Wie denn?«
»Morgen kommt doch die Müllabfuhr, weißt du? Und ich bin dran mit Müll-und-Altpapier-Rausbringen.«
Carrie verzog das Gesicht. Wir haben doch gar keine Zeitung. Was soll das nutzen? , gebärdete sie.
Aber die Nachbarn haben sie. Ich hab mir schon mal eine von ihnen geholt.
Carrie riss die Augen auf.
»Ehrlich, Carrie. Du bist nicht die Einzige, die begriffen hat, dass man weggeworfene Sachen auch wieder reinholen kann.«
Carries Gesicht verlor jede Farbe.
Ich weiß das mit dem Buch , gebärdete Genie. Mach dir keine Sorgen, ich verrat’s nicht.
Trotz ihrer Versicherungen sammelten sich Tränen in Carries Augen. Genie bekam ein schlechtes Gewissen, das noch schlimmer wurde, als Carrie auf den Topf vor ihr hinabsah und offensichtlich schwer mit den Tränen rang. Und dann tropften welche von ihrer Nasenspitze und in die Erde.
»Entschuldige bitte! Entschuldige!«, flüsterte Genie, ehe sie aufsah und eine Frau mit entschlossenen Schritten über den Rasen kommen sah. »Oh nein. Mom.«
Carrie blickte auf und sah Genie mit leiser Verzweiflung an. Sie hatte Angst.
Genie wusste natürlich genau, wovor sie Angst hatte. »Wir müssen ihr sagen, warum du weinst. Sie wird uns mit ihren Fragen keine Ruhe lassen.«
»Ich sage, es ist wegen Cousine Sheila«, flüsterte Carrie.
»Das glaubt sie uns nie«, wandte Genie ein. »Sag einfach, ich war gemein zu dir.«
»Kommt nicht infrage.«
Da hatte Genie eine Idee. Sie zögerte nur kurz, ehe sie eines der Gläser gegen die Tischkante schlug. Es zerbrach mit einer regelrechten Geräuschexplosion. Sie hielt ihrer Schwester eine der größeren Scherben hin. »Schneid dich. Nur ein bisschen. Schnell!«
Carrie hatte sich gerade dazu durchgerungen, als Tante Edith rief: »Was ist denn passiert?«
»Oh, Carrie! Du hast dich verletzt!«, rief Genie, ohne ihr Mitleid heucheln zu müssen. Der Schnitt blutete stärker als erwartet. Genie griff nach einem Papierhandtuch und drückte es auf Carries Hand, ehe sie ihr besorgt ins Gesicht sah.
»Es ist nicht so schlimm«, stieß Carrie hervor, ehe sie ihren Tränen freien Lauf ließ.
23. KAPITEL
DIENSTAG, 25. APRIL, 11:45 UHR HALLE DES WRIGLEY BUILDING, LAS PIERNAS
Anna Stover sah reichlich mitgenommen aus. Sie war bleich, hatte dunkle Ringe unter den Augen, und man sah sofort, dass sie geweint hatte. Ich gestehe, dass ich ein bisschen schadenfroh war. Sie war ausgezogen und hatte die Beziehung zu Ben mit einem mickrigen Zettel beendet. Dies hätte ihr großer Unabhängigkeitstag werden sollen, doch nun hatte das Leben ihre Wunderkerzen nass gepinkelt.
Sie starrte ins Leere und bot ein Bild des Jammers. Anscheinend hatte sie mich weder gesehen noch die Treppe herunterkommen hören, da sie völlig verschreckt reagierte, als ich sie ansprach. »Was kann ich für dich tun, Anna?«
Sie erschauerte ein wenig. Vielleicht wegen der Kälte, die ich in meine Frage gelegt hatte. Sie sah mir ins Gesicht und musterte es einen Moment, ehe sie zu Geoff hinüberschaute, unserem alten Wachmann. Ich folgte ihrem Blick und sah, dass Geoff sie mit aufrichtigem Mitgefühl musterte. Geoff, der nach manchen Berechnungen auf die 130 zugeht (und anderen zufolge ein Jugendfreund von Tutanchamun war) hat gern hübsche Gesichter um sich, lässt sich von ihnen aber nicht einlullen. Angesichts seines Blicks schämte ich mich ein bisschen für meine Reaktion ihr gegenüber.
»Hast du schon gegessen?«, fragte ich sie.
»Nein, aber …«
»Dann lass uns Mittag essen gehen«, sagte ich.
Ich warf einen Blick auf Geoff, der mich anstrahlte. »Ich melde Sie ab«, erklärte er. Dieser unglaubliche alte Mann kontrolliert meinen Lebenswandel schon seit Jahren.
Ich führte Anna hinaus, ehe irgendjemand anders von der Zeitung dazwischenfunken konnte, und blieb stehen. Nicht weit von der Zeitung gibt es ein Hamburgerlokal, doch dort würde es in wenigen Minuten von anderen Reportern wimmeln. Ich wollte lieber in etwas ungestörterer Atmosphäre mit ihr sprechen. Außerdem musste Anna ohnehin ein Stück gehen, um ihre Beklommenheit loszuwerden.
»Hier die Straße runter gibt es ein Lokal namens Rosie’s. Hast du dort schon mal gegessen?«
»Nein. Aber wir können hingehen, wo du willst.«
Wir sprachen nichts, doch das Gehen schien ihren Kummer ein bisschen zu lindern. Der Himmel war blau, die Luft war frisch und rein, und die ganze Stadt hatte sich das Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher