Blutsverwandte: Thriller (German Edition)
…«
Er erzählte mir noch einmal die Geschichte, die er mir bereits am Telefon geschildert hatte, diesmal ausführlicher. Nachdem Bonnie bei der Zeitung aufgehört hatte, war es mit ihr offenbar kontinuierlich bergab gegangen. Ives hatte sie auf halbem Weg den Abhang hinunter kennengelernt – als sie bereits Fahrt aufnahm und auf den Abgrund zuraste. Der kam, als es ihr zu viel wurde, sich um einen Säugling zu kümmern, und sie mit Reggie Faroe durchbrannte, einem Mann mit krimineller Vergangenheit und einem Drogenproblem. Blake und Bonnie Ives wurden geschieden, als Carla zwei war. Die Richter zogen Bonnies Geschichte und Faroes Vorstrafen in Betracht und waren sich mit Blake darin einig, dass er das alleinige Sorgerecht bekommen sollte. Bonnie zog häufig um, hielt jedoch den Kontakt und besuchte ihre Tochter. Als Carla vom Säugling zum Kleinkind wurde, schien in Bonnie ein neues Verlangen danach zu erwachen, Mutter zu sein. »Sie arbeitete sich aus ihrem Sumpf heraus – oder zumindest kam es mir so vor«, sagte Ives. »Sie hat behauptet, sie hätte nichts mehr mit Faroe zu tun, aber ich habe ihr nicht getraut. Ich habe Carla nie bei ihr übernachten lassen. Bonnie schien zufrieden damit zu sein, sich hier mit ihr aufzuhalten. Und sie hat angedeutet, dass wir vielleicht wieder zusammenkommen könnten.« Er hielt inne. »Ich würde ja jetzt gern sagen, dass ich nicht darauf hereingefallen bin, und wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich auch nichts darauf gegeben. Doch ich habe immer wieder gesehen, wie nett sie zu Carla war, und dann musste ich daran denken, dass Carla ohne Mutter aufwachsen würde. Außerdem wirkte Bonnie stabiler als die ganzen Jahre zuvor. Da bin ich in Versuchung geraten.«
Er ging durchs Zimmer, hob Squeegee hoch und nahm ihn in die Arme.
»Eines Nachmittags kam sie vorbei und fragte, ob wir alle drei zusammen essen gehen könnten. Im Restaurant bin ich zur Toilette gegangen, und als ich zurückkam, war unser Tisch leer. Bis ich begriffen hatte, dass sie nicht nur mit Carla auf der Damentoilette war, war sie auf und davon. Ich glaube, irgendjemand, vermutlich Faroe, muss draußen gewartet haben, um sie abzuholen und mit den beiden davonzufahren. Wir waren nämlich alle drei in meinem Auto zum Restaurant gefahren. Ein Privatdetektiv hat herausgefunden, dass Faroe damals in Nevada gelebt hat, doch er ist kurz nach Carlas Entführung verschwunden, daher glaube ich, dass er mit ihnen ins Ausland abgehauen ist, wahrscheinlich nach Mexiko.«
Er sah auf Squeegee hinab. »Das Kerlchen hier war ihr Liebling«, sagte er und setzte den Löwen sanft wieder aufs Bett. »Sie hat Angst vor Gewittern gehabt. Das haben viele Kinder, ich weiß, aber … Jedenfalls hab ich dann immer das Lied aus Butch Cassidy und Sundance Kid gesungen, ›Raindrops Keep Falling on My Head‹. Sie hat das Lied geliebt. Immer wenn es regnet, so wie neulich, muss ich daran denken, und dann frage ich mich, ob sie sich fürchtet.«
Er stand auf und atmete schwer aus, wie jemand, der einen schweren Schlag in die Magengrube bekommen hat.
Der Schmerz, der Verlust – beides war nicht zu übersehen. Genau wie seine Angst um seine Tochter. Was einem erst bei genauerem Hinsehen auffiel, war, dass er auf einer Reise, die ein Vater und ein Kind gemeinsam hätten machen sollen, abrupt aufgehalten worden war. Es dauerte ein bisschen länger, bis man erkannte, wie angeschlagen ihn das zurückgelassen hatte.
Er wies auf einen Stapel bunt verpackter Geschenke, die sich in einer Ecke des Schrankes stapelten. »Geburtstage«, sagte er. »Weihnachten.«
Der Fotograf wollte, dass Ives mit ihnen posierte, doch er zögerte erst, ehe er schließlich einwilligte. »Für die meisten ist sie jetzt ohnehin zu alt«, sagte er und zwickte sich hart in den Nasenrücken. Es fielen keine Tränen, doch er sah schlimm aus, während er sie zurückhielt.
Der Fotograf war zu gut, um sich diesen Augenblick entgehen zu lassen. Unsere Chefs würden begeistert sein. Keiner von uns freute sich daran, egal, was für einen Ruf Leute aus unserer Branche auch haben mögen. Ich erwarte nicht, dass jemand, der nicht dabei war, das begreift, aber sich von Blake Ives’ Kummer abzuwenden hätte ihn im Grunde entwertet.
Ich sah mich im Zimmer um. »Eine Landkarte der Vereinigten Staaten? Bücher? Leselernkarten? War sie dafür nicht noch ein bisschen zu klein?«
»Sie konnte mit knapp neun Monaten laufen. Sie hat zu sprechen begonnen, als sie
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