Blutsverwandte: Thriller (German Edition)
noch nicht einmal ein Jahr alt war. Mit zwei konnte sie alle Bundesstaaten aufzählen und sie auf der Landkarte zeigen. Vor ihrem dritten Geburtstag konnte sie einfache Sätze lesen und hat ein Kinderbuch nach dem anderen verschlungen. Und sie konnte addieren und subtrahieren.« Er hielt inne. »Wahrscheinlich klingt das wie Prahlerei, aber wir haben sie testen lassen. Oder vielmehr, ich habe nachgegeben und sie testen lassen. Jetzt bereue ich es.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich wollte Bescheid wissen, damit wir die richtigen Entscheidungen für ihre Ausbildung treffen konnten. Aber wenn ein Kind erst einmal als begabte Vorschülerin erkannt ist … sagen wir mal, es gibt Leute, die dieses Kind dann nicht mehr einfach nur Kind sein lassen.«
»Wie zum Beispiel Bonnie?«
»Ich weiß es nicht.« Er seufzte. »Bonnie liebt Carla. Da bin ich mir sicher. Das ist das Einzige, was mich vor dem völligen Durchdrehen bewahrt. Aber manchmal – ja, ich glaube, sie hat sie zum Lernen angetrieben und keinen Ausgleich durch Spielen und all die anderen Dinge geschaffen, die ein Kind braucht. In Bonnies Augen habe ich Carla behindert.«
»Auf welcher Vorschule war sie denn?«
»Barrington Hills.«
Der Fotograf pfiff durch die Zähne.
Ich warf ihm einen Blick zu.
»Nicht billig, aber Kinder kommen später in die besten Schulen, wenn sie dorthin oder nach Sheffield Gardens gehen. Oder natürlich auf die Fletcher Day School.«
»Gehört die zur Fletcher Academy?«, fragte ich.
»Eigentlich nicht, obwohl beide von der Familie betrieben werden. Aber viele Kinder von der Day School gehen später auf die Academy.«
»Und die Academy ist die beste Privatschule in Las Piernas«, sagte ich, ehe ich mich wieder Ives zuwandte. »Sie haben also viel Geld für die Vorschule bezahlt?«
»Ich hätte auch das Doppelte bezahlt«, erwiderte er, »selbst wenn ich einen Zweitjob hätte annehmen müssen. Ich wollte Carla Kind sein lassen, aber das ist nicht so einfach – schließlich wollte ich ihr auch alle Möglichkeiten für die Zukunft offenhalten. Die Kinder, die nach Barrington gehen, kommen später auf Schulen, die ihnen den Weg zu Elite-Universitäten öffnen. Ich wollte, dass sie die besten Möglichkeiten hat.«
Mir blieb fast der Mund offen stehen. »Sie war keine fünf Jahre alt. Sie war noch nicht einmal im Kindergarten.«
»Der Wettbewerb ist knallhart.«
»Kann man denn überhaupt wissen, wie intelligent ein so kleines Kind ist? Oder ob es gern zur Schule gehen wird?«
»Sicher – na ja, natürlich nicht immer. Aber bei Carla hat man es auch ohne die Tests gemerkt.«
»Wer hat sie denn getestet?«, fragte ich, in der Hoffnung, den Namen von jemandem zu erfahren, der nicht ganz so voreingenommen war.
»Ich habe ihre Zeugnisse für Sie kopiert. Einen Moment bitte.«
Ives ging hinaus. Ich wandte mich zu dem Fotografen um und wollte schon einen Witz über allzu ehrgeizige Eltern machen, doch der Fotograf hatte statt eines zynischen einen sehnsüchtigen Blick aufgesetzt und seufzte verträumt. »Barrington Hills«, sagte er. »Mann, hoffentlich kann ich meine Kinder auch dort unterbringen.«
»Wie alt sind sie denn?«, stieß ich hervor.
»Meine Tochter ist sechs Monate alt. Und mein Sohn ist zwei.«
Ives kehrte mit einem dicken Stapel Papiere zurück, darunter auch Berichte von einem Privatdetektiv, den er kurzzeitig engagiert hatte, Informationen vom Nationalen Zentrum für vermisste und sexuell ausgebeutete Kinder sowie seine Aufzeichnungen von einer kostspieligen Sitzung bei einer Hellseherin. »Ich war so verzweifelt«, sagte er, als ich darauf stieß. Ich sah Handzettel mit einem Foto seiner Tochter und Kopien der Notizen, die er sich über seine Gespräche mit der Polizei gemacht hatte, wobei die Notizen mit der Zeit immer knapper wurden. Die letzten Aufzeichnungen waren in Abständen von drei Monaten entstanden, versehen mit dem jeweiligen Datum, den Namen verschiedener Detectives des LPPD, die das Pech hatten, im wenig angesehenen Reich der Vermissten zu arbeiten, und dem Wort »nichts« neben ihren Namen.
»Wann erscheint der Artikel?«, fragte er.
»Das entscheidet der Chefredakteur«, antwortete ich geistesabwesend, während ich seine Notizen überflog. »Vielleicht nächste Woche, aber das kann ich nicht garantieren. Eine aktuellere Geschichte kann alles umwerfen. Und ich kann auch nicht garantieren, wie viel von dem, was ich geschrieben habe, gedruckt wird.« Ich hob den Blick und sah, wie er die
Weitere Kostenlose Bücher