Bluttaufe: Thriller
flüsternd miteinander. Hensen saß auf dem Rücksitz und jonglierte mit den Buchstabenkombinationen.
»Tannen, wieso hat er ausgerechnet zu Ihnen Kontakt aufgenommen?«, fragte Mangold.
»Ich hab ihn nicht angesehen«, sagte Tannen. »Autisten mögen das nicht.«
»Danke«, sagte Mangold.
Als sie zwanzig Minuten später den Parkplatz des Präsidiums erreichten, sagte Hensen von hinten: »Zurück, wir müssen sofort zur Universitätsklinik. Probiert doch mal aus, ob eure Dachbeleuchtung noch funktioniert.«
Tannen wendete den Wagen und raste mit Blaulicht und eingeschalteter Sirene Richtung Innenstadt.
»Und?«, sagte Mangold. »Hat er uns verraten, wo sich Kaja befindet?«
Immer noch über seine Notizen gebeugt, schüttelte Hensen den Kopf.
»Wenn ich nicht ganz falsch liege, dann sind die Begriffe Oil, Gin und Wurzeln ein Anagramm für Neurozwilling.«
»Neurozwilling? Was soll das sein?«
»Ein weiteres Anagramm lautet: Er Zwilling uno.«
»Er ist der erste Zwilling?«, fragte Mangold.
»Er ist der erste Zwilling, und er sucht seinen Bruder. Das ist es. Er will seinen Bruder neu schaffen.«
»Und was sollen wir dann im Krankenhaus?«
»Wenn jemand seinen Zwilling neu erschaffen will, dann muss er ihn verloren haben. Klar? Er vermisst ihn, also hat er ihn gekannt.«
»Er will seinen Zwillingsbruder auferstehen lassen, na
schön, doch was haben medizinische Unterlagen damit zu tun?«
»Erinnere dich: Kaja hat davon gesprochen, dass die meisten Savants eine Art Hirnschaden haben, bei denen die Nervenstränge neu verschaltet werden.«
»Richtig.«
»So ein Hirnschaden kann vor der Geburt, währenddessen oder eben durch einen Unfall passieren.«
»Du meinst …«
»Genau, er ist ein siamesischer Zwilling, der seinen Bruder auferstehen lassen will. Oder, um genau zu sein - und jetzt geht es ans Eingemachte - um einen parasitären Zwilling.«
»Was um Himmels willen ist das?«, sagte Mangold.
»Ich kann das nicht genau sagen, aber irgendwie sind die auf besondere Weise verwachsen. Sollte es aber einen solchen Zwilling geben, der operativ von unserem Täter getrennt wurde, dann muss es darüber Unterlagen geben. Zumindest in der medizinischen Datenbank. Die umfasst schließlich auch wichtige Berichte aus anderen Krankenhäusern im Bundesgebiet.«
»Parasitärer Zwilling«, wiederholte Mangold. »Jetzt wird es zum Horrorfilm.«
»Ich mach mal weiter.«
Hensen ließ sich vor dem Gebäude absetzen.
»Und ihr solltet herausfinden, ob derartige Trennungen Schlagzeilen gemacht haben. Zeitungsarchive und so weiter, alles, was ihr rausfinden könnt.«
24.
»Kaja, du hast meine Welt betreten. Unsere Welt.«
»Niemand betritt die Welt eines anderen.«
»Wir sind eine Familie, Kaja.«
»Man kann einen Blick hineinwerfen, aber die Welt eines anderen Menschen ist nicht zu betreten.«
»Du bist die Expertin, Kaja.«
»Niemand wird diese Welt verstehen, niemand will diese Welt.«
»Kaja, du verstehst nicht. Ich habe dich erschaffen. Ich habe dich für diese unsere neue Welt erschaffen. Du wirst dich zurechtfinden. Warte ab, bis du uns beide hören kannst. All die Geheimnisse, die wir tauschen.«
»Ich sitze in einem dunklen Loch und höre gar nichts, außer deiner Stimme.«
»Nur wenn es dunkel, wenn es finster ist, kann ein Licht aufscheinen. Licht und Dunkelheit sind Zwillinge. Sind eins. Wir verstehen das. Und du wirst es ebenfalls verstehen. Angst und Freude gehören zusammen, sie sind Zwillinge. Ohne Angst gibt es keine Freude. Die Freude leuchtet in der Dunkelheit auf, verstehst du das?«
»Esoterisches Gewäsch. Wer soll dieses ›Wir‹ sein?«
»Du wirst uns hören. Beide. Hab Vertrauen, Kaja. Auch Liebe und Hass sind Zwillinge.«
25.
Hensen stand in einem muffig riechenden Abschnitt des Krankenhausarchivs. An diesen Kellerräumen waren die Modernisierungen der letzten 30 Jahre achtlos vorübergegangen. Nur im Eingangsbereich, in dem die neuesten Krankenakten lagerten, war frisch gestrichen worden.
Zehntausende von Akten mussten es sein, die sich hier in Regalen und auf Tischen türmten. Hensen suchte nach den medizinischen Periodika, in denen neueste Forschungsergebnisse oder auch besondere medizinische Schwerpunkte aufgearbeitet wurden.
In einem »Lexikon zur chirurgischen Praxis« fand er einen Abschnitt über »Missbildungen und Fehlentwicklungen bei Zwillingen«.
Drei von zehn siamesischen Zwillingen verstarben noch während der Schwangerschaft. Auf eine Million Geburten
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