Blutvertrag
junge Mann trat zu dem Tisch mit den lachenden Frauen.
»Durch die Rechtsanwaltskosten haben meine Eltern ihr gesamtes Vermögen verloren. Angelina hatte auch nicht viel Geld.«
Eine der Frauen stand auf, um dem jungen Mann einen Kuss zu geben. Er sah glücklich aus.
»Wir hießen Locadio, aber der Name war inzwischen berüchtigt. «
»Ich war damals auch noch ein Kind«, sagte Tim, »aber an den Namen erinnere ich mich.«
»Die anderen Kinder haben mich geschnitten. Manche Jungen haben obszöne Gesten gemacht.«
»Ist Paquette Angelinas Familienname?«
»Ja. Ich habe ihn übernommen und die Schule gewechselt. Aber das hat nichts genutzt.«
Der Kolibri war verschwunden gewesen. Nun kehrte er zurück.
»Deshalb wurde ich zu Hause unterrichtet.«
»Das hat dir offenbar nicht geschadet.«
»Weil ich alles wissen wollte. Um zu begreifen, warum .«
»Aber es gibt kein Warum«, sagte er. »Ein Teil der Welt ist eben finster.«
»Das zweite Mädchen, das missbraucht worden war, hat vor zwei Jahren Kontakt mit mir aufgenommen.«
»Also hat sie sich von den falschen Erinnerungen frei machen können?«
»Sie hatte nie welche. Sie hat einfach gelogen, weil man sie dazu gezwungen hat.«
»Du meinst … der Psychiater? Hatte sie Angst vor ihm?«
»Furchtbare Angst. Er hat sie bei den Gesprächen missbraucht. «
»Das vernarbte Gewebe …«
»Sie hat gelitten. Scham. Furcht. Schuldgefühle, weil mein Vater umgebracht wurde.«
»Was hast du ihr gesagt?«
»Dass ich ihr dankbar bin, weil sie sich überwunden hat, mich aufzusuchen.«
»Hat sie den Psychiater angezeigt?«
»Ja. Und er sagt, er wird sie wegen Verleumdung verklagen. «
»Was ist mit Chloe? Könnte sie die Aussage nicht unterstützen? «
»Als sie vierzehn war, hat Chloe Selbstmord begangen.«
Die Sonne war warm auf der Haut, und die ganze Natur schien sich daran zu freuen: der Kolibri und die dunkelrosa Blüten, der schwanzwedelnde Hund und sein pfeifender Besitzer, der junge Mann mit den Rosen und die lachenden Frauen. Aber trotz aller Schönheit und Lebensfreude war die Welt doch immer auch ein Kriegsschauplatz.
51
Während die Frau in der Küche vor sich hin sang, machte Krait sich mit dem Wohnzimmer vertraut.
Das blasse Gelb der Außenwände wiederholte sich im Innern, während alle Zierleisten und Einbauschränke glänzend weiß lackiert waren. Auf dem rötlichen Mahagoniparkett, das den Raum erdete, schwebte ein Teppich in Gelb- und Violett-Tönen. Sein Muster aus Palmetten und filigranen Blättern ließ erkennen, dass es sich um eine billigere moderne Version eines Persers handelte.
Die Möbel waren nichts Besonderes, aber auch nicht unbedingt scheußlich. Obwohl der Raum nicht mit blumigen Stoffen, Rüschen und Fransen verunstaltet worden war, vermittelte er eine warme, weibliche Atmosphäre.
Die meisten Leute hätten wohl gefunden, es handle sich um einen Stil, der familiäres Wohlbefinden erzeugte. Da Krait selbst keine Erfahrungen mit einer Familie hatte, konnte er das nicht beurteilen.
Die Frau hörte auf zu singen.
Krait legte den Stoffbeutel auf einen Sessel, öffnete den Reißverschluss und zog ein Instrument heraus, mit dem er die Frau ohne weitere Umstände unter Kontrolle bringen konnte.
Während er hantierte, achtete er darauf, ob sich Schritte näherten. Er hatte den Eindruck, dass die Frau innegehalten hatte und ebenfalls lauschte, aber nach einer Weile begann sie wieder zu singen. Diesmal war es »Someone to Watch over Me«.
Über dem offenen Kamin hing ein Gemälde, auf dem Kinder im Badeanzug über einen Strand liefen. Die Sonne ließ die Brandung leuchten, und die Kinder sahen fröhlich und ausgelassen aus.
Mit Kindern konnte Krait natürlich überhaupt nichts anfangen, aber dieses Bild fand er derart abstoßend, dass er paradoxerweise davon angezogen wurde.
Den Stil des Werks konnte man eigentlich nicht als gekünstelt, ja nicht einmal als sentimental bezeichnen. Der Künstler hatte ein realistisches Auge nicht nur für Form, Proportion und Detail, sondern auch für die Feinheiten des Lichts.
Je länger Krait das Bild betrachtete, desto mehr verabscheute er es. Die Gründe für seine Abneigung begriff er hingegen kein bisschen besser.
Instinktiv wusste er, dass dieses Bild etwas darstellte, wozu er immer in Opposition stehen musste. Es war etwas, gegen das er sich mit jeder Faser seines Körpers wehren und worauf er mit gnadenloser Gewalt reagieren musste.
In der Küche ging die Frau von »Someone to
Weitere Kostenlose Bücher