Blutvertrag
auch.«
»Hat man dich deinen Eltern weggenommen?«
»Man hat es versucht. Der Psychiater sagte, er könne mir helfen.«
»Inwiefern?«
»Er könne mir helfen mich zu erinnern, weshalb ich schlimme Träume hatte.«
»Hattest du denn welche?«
»Hat die nicht jedes Kind? Ich war damals zehn Jahre alt. Er hatte eine sehr eindringliche Art.«
»Der Psychiater?«
»Eine eindringliche Art, eine verführerische Stimme. Damit hat er es geschafft, dass man ihn mochte.«
Je höher die Sonne stieg, desto kleiner wurden die Schatten der Tassen auf dem Tisch.
»Er brachte einen dazu, dass man bestimmte Dinge glauben wollte … Dinge, die vielleicht verborgen und vergessen waren.«
Sie faltete beide Hände um die kleine Espressotasse.
»In seinem Behandlungszimmer herrschte gedämpftes Licht. Er war geduldig. Sprach in leisem Ton.«
Sie hob die Tasse, ohne etwas zu trinken.
»Irgendwie hat er einen dazu gebracht, ihm in die Augen zu schauen.«
Tim spürte eine feine Schweißschicht im Nacken, die ihn frösteln ließ.
»Er hatte so schöne, traurige Augen. Und weiche, sanfte Hände.«
»Wie weit hat er dich auf diesem Weg geführt … zu diesen falschen Erinnerungen?«
»Womöglich weiter, als ich mich erinnern will.«
Sie trank den letzten Schluck Espresso.
»Bei unserer vierten Sitzung hat er sich vor mir entblößt.«
Während sie sprach, stellte sie klappernd die Tasse auf der Untertasse ab.
Tim griff nach seiner Papierserviette, um sich den kalten, feuchten Nacken abzuwischen.
»Er hat mich gebeten, es zu berühren«, fuhr sie fort. »Es zu küssen. Aber ich wollte nicht.«
»Puh. Hast du es jemandem erzählt?«
»Niemand hat mir geglaubt. Man hat behauptet, meine Eltern hätten mich dazu angestiftet, so etwas zu sagen.«
»Um ihn in Verruf zu bringen.«
»Daraufhin hat man mich meinen Eltern tatsächlich weggenommen. Ich musste zu Angelina.«
»Wer war das?«
»Die Tante meiner Mutter. Molly und ich, mein Hund Molly … ausgerechnet zu Angelina.«
Sie starrte auf ihre Handrücken. Dann auf ihre Handflächen.
»An dem Tag, als man mich weggebracht hat, haben sie unser Haus mit Steinen beworfen. Mehrere Fenster sind zerbrochen.«
»Wer hat das getan?«
»Jemand, der an geheime Zimmer und an Satanismus glaubte.«
Sie legte die Hände auf dem Tisch übereinander.
Ihre bemerkenswerte Ruhe hatte sie nicht verlassen.
»Fünfzehn Jahre lang habe ich nicht darüber gesprochen«, sagte sie.
»Du musst nicht weitersprechen«, sagte er.
»Doch, das muss ich. Aber ich brauche noch etwas Koffein, um mir Mut zu machen.«
»Dann besorge ich noch Espresso.«
»Danke.«
Er trug die benutzten Tassen zwischen den Tischen hindurch über die Terrasse. An der Tür des Cafés blieb er stehen und wandte sich nach Linda um.
Die Sonnenstrahlen schienen sie stärker zu erfassen als alles andere um sie herum. Hätte man nur dem Augenschein nach geurteilt, so wäre man vielleicht auf die Idee gekommen, die Welt sei nie unfreundlich zu ihr gewesen. So ruhig und schön war ihr Gesicht, das Tims Blick magnetisch anzog.
49
Wieder unterwegs fuhr Krait wohlgemut dahin. Die Ereignisse zeigten, dass er nicht nur ein Fürst, sondern sogar der König der Welt war.
Timothy Carrier war ein mächtiger Gegner, das musste man zugeben. Aber der Maurer hatte eine Schwäche, die ihn ihm ans Messer liefern würde.
Krait musste das flüchtige Paar nicht mehr aufspüren. Er konnte Carrier – und seinen Schützling – dazu zwingen, zu ihm zu kommen.
Während er Richtung Laguna Niguel fuhr, kam ihm eine Idee, die er ungemein faszinierend fand. Vielleicht war die umgekehrte Welt, die er in Spiegeln sah und so gern erforscht hätte, seine eigentliche Welt – die, aus der er gekommen war.
Wenn er keine Mutter hatte, was seine fehlende Erinnerung an eine eigentlich bewies, wenn sein Leben also scheinbar plötzlich im Alter von achtzehn Jahren begonnen hatte und alles davor ein Geheimnis blieb, dann lag es nahe, dass er nicht aus einem Mutterschoß auf diese Welt gekommen war, sondern aus einem Spiegel.
Seine Sehnsucht nach Spiegeln war also vielleicht die Sehnsucht nach seinem wahren Zuhause.
Das war außerdem eine mögliche Erklärung dafür, warum er sich in dieser Welt nie ein eigenes Haus gekauft hatte. Unbewusst hatte er erkannt, dass kein Ort auf dieser Seite des Spiegels sein Bedürfnis nach Heim und Herd ganz befriedigen konnte, weil er hier immer ein Fremder in einem fremden Land sein würde.
Er war also anders als
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