Blutvertrag
Gesicht von innen her leuchten.
»Chloe war ziemlich schwierig. Deshalb wollte die Mutter dabei bleiben.«
»Es heißt ja, inzwischen lässt man es schon fast die Hälfte aller Kinder schlucken«, sagte Tim.
»Vielleicht haben meine Eltern es ungewollt geschafft, dass die Mutter Schuldgefühle bekam.«
»Oder sie mussten es gar nicht schaffen. Vielleicht hat die Mutter sich ohnehin schon schuldig gefühlt.«
»Egal. Jedenfalls hat sie es ihnen übelgenommen, dass sie darauf zu sprechen kamen.«
Der Kolibri war schillernd grün. Seine Flügel sah man nur verschwommen, so schnell bewegte er sie.
»Eines Tages ist Chloe auf dem Spielplatz hingefallen und hat sich das Knie aufgeschürft.«
Inzwischen fand Tim, dass die Fotos traurig aussahen. Sie waren Erinnerungen an einen Verlust.
»Meine Eltern haben die Wunde gesäubert.«
Tim steckte die Fotos in die Brieftasche zurück.
»Dabei haben sie Jod verwendet. Das hat natürlich gebrannt, und Chloe hat geschrien und getobt.«
Mit lautem Surren flog der Kolibri zu einer neuen Blüte.
»Anschließend hat sie ihrer Mutter erzählt, sie hätte es nicht gemocht, wie man sie angefasst hat.«
Tim schüttelte den Kopf. »Die Mutter hat doch bestimmt kapiert, dass damit das Jod gemeint war.«
»Vielleicht hat sie es missverstanden. Weil sie es missverstehen wollte .«
Lindas Gesicht verdüsterte sich, obwohl die Sonne immer stärker schien.
»Jedenfalls ist sie zur Polizei gegangen.«
Die schwirrenden Vogelflügel erzeugten ein leises, unerbittliches Geräusch.
»Daraufhin hat man meine Eltern befragt und festgestellt, dass es keinen Grund gab, gegen sie vorzugehen.«
»Aber das war nicht das Ende der Geschichte, oder?«
»Der Bezirksstatsanwalt hatte damals Probleme. Seine Wiederwahl war gefährdet.«
»Das heißt, es ging nicht mehr um Recht und Gesetz, sondern nur noch um Politik«, sagte Tim.
Linda drehte ihr Gesicht von der Sonne weg, hielt die Augen jedoch weiterhin geschlossen.
»Der Staatsanwalt hat einen Psychiater angeheuert, der die Kinder befragen sollte.«
»Alle, nicht bloß Chloe?«
»Alle. Und dabei kamen allerhand wilde Geschichten in Umlauf.«
»Zum Beispiel?«
»Nacktspiele. Nackte Tänze. Im Spielzimmer getötete Tiere.«
»Tieropfer? So was hat man geglaubt?«
»Angeblich seien Hunde und Katzen getötet worden, um die Kinder so einzuschüchtern, dass sie den Mund hielten. «
»Mein Gott …«
»Zwei Kinder haben sogar gesagt, ein kleiner Junge sei zerstückelt worden.«
»Und das hatten sie ihren Eltern nie erzählt?«
»Verdrängte Erinnerungen. Man hätte ihn zerstückelt und im Garten vergraben.«
»Dann hätte man doch nur an der besagten Stelle graben müssen, um das zu überprüfen.«
»Das hat man auch getan, natürlich ohne etwas zu finden. «
»Und das war immer noch nicht das Ende?«
»Man hat die Tapeten von den Wänden gerissen, um nach Kinderpornographie zu suchen.«
»Ohne welche zu finden«, sekundierte Tim.
»Natürlich. Und man hat nach Gegenständen gesucht, wie man sie bei satanischen Ritualen verwendet.«
»Das klingt ja nach einer modernen Hexenjagd!«
»Manche Kinder haben behauptet, man hätte sie gezwungen, Bilder des Teufels zu küssen.«
»Und Kinder lügen nie«, sagte Tim.
»Ich mache ihnen keine Vorwürfe. Sie waren klein … und leicht beeinflussbar.«
»Ein Psychiater kann seinen Patienten unwissentlich falsche Erinnerungen einpflanzen, habe ich einmal gelesen.«
»Vielleicht geschieht das nicht immer unwissentlich. Übrigens, die abgehängten Zimmerdecken hat man auch heruntergerissen. «
»Alles wegen eines aufgeschürften Knies.«
»Der Boden wurde aufgerissen, um nach geheimen Kellerräumen zu suchen.«
»Die es nicht gab.«
»Nein. Trotzdem hat man meine Eltern vor Gericht gestellt. Aufgrund der Zeugenaussagen.«
Linda öffnete die Augen, denen man ansah, dass sie in die Vergangenheit blickte.
»Jetzt dämmert es mir allmählich«, sagte Tim. »Gab es damals nicht viele solcher Fälle?«
»Stimmt. Massenhaft. Es war eine landesweite Hysterie.«
»Manches muss ja gestimmt haben.«
»Schon, aber in mindestens fünfundneunzig Prozent der Fälle war es Humbug.«
»Trotzdem war das Leben vieler Menschen ruiniert, und manche kamen unschuldig ins Gefängnis.«
Linda schwieg. »Ich musste auch mit dem Psychiater sprechen«, sagte sie dann.
»Mit demselben, der die Kinder aus dem Kindergarten befragt hatte?«
»Ja. Der Staatsanwalt hat es verlangt. Das Jugendamt übrigens
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