Blutvertrag
solche Gedanken – dass es irgendwie in der Natur des Lebens liegt, wenn man eines unnatürlichen Todes stirbt oder ermordet wird?«
Tim sah sie an. »Hat man bei den Ermittlungen zum Mord an Ihrer Familie eigentlich irgendwelche Fortschritte gemacht?«
»Wenn man einen Bären jagt, kann man keine Fortschritte machen, indem man nur der Fährte von Rehen folgt. Anders gesagt, die Polizei sucht einen Einbrecher, aber den gab es nicht.«
»Ist denn kein Geld verschwunden?«, fragte Linda.
»Was da war, ist verbrannt, aber es gab ohnehin nichts, was es sich zu stehlen lohnte. Morgens war in der Kasse nur Wechselgeld. Wegen vierzig Dollar in Münzen und kleinen Scheinen bringt doch niemand vier Menschen um!«
»Manche tun das für weniger«, sagte Tim. »Aus Hass. Aus Neid. Aus gar keinem Grund. Nur, um zu töten.«
»Und dann legen sie sorgfältig ein Feuer? Verschließen hinter sich die Tür und richten es so ein, dass das Feuer erst ausbricht, wenn sie schon eine Weile weg sind?«
»Also hat die Polizei einen Zeitzünder gefunden?«, fragte Linda. »Einen Brandsatz?«
»Die Hitze war extrem. Da war kein Brandsatz mehr auffindbar, nur noch gewisse Hinweise darauf. Deshalb diskutiert man bei der Polizei ständig hin und her. Abwechselnd heißt es, da war einer und da war keiner.«
In dem weiten Himmel jenseits der Fenster löste sich ein letzter, feiner Wolkenfetzen auf und versank im Dunkelblau.
»Woher wissen Sie eigentlich, dass jemand Sie umbringen will?«, fragte Lily.
Linda warf Tim einen kurzen Blick zu. »Ein Mann hat versucht, mich in einer Gasse zu überfahren. Später hat er auf uns geschossen.«
»Waren Sie bei der Polizei?«
Tim schüttelte den Kopf. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass dieser Mann Beziehungen zu irgendeiner Polizeibehörde hat. Deshalb wollen wir mehr erfahren, bevor wir etwas unternehmen.«
Lily beugte sich vor. »Wissen Sie schon einen Namen?«
»Ja, aber der ist gefälscht. Seinen richtigen Namen kennen wir nicht.«
»Und wie haben Sie von mir erfahren? Woher wussten Sie, dass ich einen solchen Verdacht hege?«
»Den falschen Namen, den wir kennen, hat man vorübergehend mit dem Mord an Ihrer Familie in Verbindung gebracht.«
»Roy Kutter.«
»Stimmt.«
»Aber der Name war echt. Angeblich hat man herausbekommen, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte.«
»Ja«, sagte Linda, »aber das ist nicht seine wahre Identität. «
»Weiß die Polizei hier bei uns davon?«
»Nein«, sagte Tim, »und ich bitte Sie dringend, denen vorläufig auch nichts von dem zu verraten, was wir Ihnen gesagt haben. Von Ihrer Verschwiegenheit hängt womöglich unser Leben ab.«
»Die würden mir sowieso nicht zuhören«, sagte Lily. »Sie meinen, ich sei vor lauter Trauer völlig wirr geworden.«
»Das wissen wir«, sagte Tim. »Wir haben gehört, dass Sie wegen des Tods der fünf Gäste dort vorstellig geworden sind. Deshalb sind wir hier.«
»Wirr bin ich durch meine Trauer nicht geworden. Sie hat mich nur zornig und ungeduldig gemacht. Und entschlossen. Ich will Gerechtigkeit. Ich will die Wahrheit wissen. «
»Wenn wir Glück haben, finden wir zumindest die Wahrheit heraus«, sagte Tim. »Aber Gerechtigkeit ist heutzutage noch schwerer zu finden als Wahrheit.«
Lily erhob sich von ihrem Sofa. »Ich bete jeden Abend und jeden Morgen für meinen toten Mann, für meine Söhne und für meine Nichte. Von nun an werde ich auch für euch beide beten.«
Während sie ihrer Gastgeberin zur Tür folgten, warf Tim noch einmal einen Blick auf den Paravent mit den Kranichen und dem schwarzem Bambus. Da entdeckte er etwas, das ihm bislang nicht aufgefallen war: Im goldenen Gras verborgen stand geduckt ein goldener Tiger.
Obwohl er nicht recht wusste, ob das angebracht war, beugte er sich an der Haustür zu Lily Chou hinunter, um sie zu umarmen.
Offenbar hielt sie es durchaus für angebracht, denn sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Vorhin habe ich gesehen, wie Sie den Wandschirm bewundert haben«, sagte sie.
»Stimmt. Gerade habe ich ihn übrigens noch einmal bewundert. Ich finde ihn fantastisch.«
»Was gefällt Ihnen besonders daran – die Schönheit der Kraniche?«
»Zuerst war es das, ja. Aber jetzt gefällt mir noch mehr, wie ruhig die Kraniche in Gegenwart des Tigers sind.«
»Nicht jeder sieht den Tiger«, sagte sie, »doch er ist da. Er ist immer da.«
Als sie im Wagen saßen, sagte Linda: »Seit dem Brand des Cafés sind weitere
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