Blutwind
Freund hätte das Telefon über die Kante des Nachttischs geschoben, nein, es sei nichts passiert.
Der Wachhabende glaubte ihr kein Wort, aber was sollte er sagen? Er gab ihr die Adresse und verabschiedete sich mit »Viel Vergnügen«.
Jetzt saß sie auf einem Stuhl in einem Zimmer des Gentofte Hospital. Im Bett vor ihr lag eine junge afrikanische Frau. Der Schrecken in dem gesunden Auge der Frau schwand nicht, als sie sich vorstellte. Keine Papiere, eine Adresse wollte sie nicht angeben. Sie sprach nur sehr wenig Englisch. Über dem rechten Auge trug die Frau einen Verband. Die diensthabende Krankenschwester hatte berichtet, dass das Auge an ihrer Wange gehangen hätte, nur vom Sehnerv und irgendetwas gehalten, an dessen Bezeichnung Sanne sich nicht mehr erinnern konnte. Vor einer Stunde war sie eingeliefert worden. Jetzt hatte man das Auge einigermaßen wieder eingesetzt, aber die Ärzte zweifelten, ob die Sehfähigkeit zu retten sei.
Sanne beugte sich vor, sie konnte es ebenso gut noch einmal probieren.
»What happened? Who did this to you?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber es kam nichts.
»Where are you from?« , wollte Sanne wissen. Diesmal leuchtete das Gesicht der Frau auf.
»Benin« , antwortete sie. »Dahomey.«
Ein Krankenwagen hatte sie am Kreisel des Brogårdsvej abgeholt. Einige Anwohner hatten die Polizei angerufen und sich beschwert; einer hatte ins Telefon gebrüllt, auf der Straße stehe eine schwarze Nutte und schreie herum. So ungefähr hatte er sich ausgedrückt. Im Grunde war das alles, was sie wussten. Allerdings hatte Sanne keinerlei Zweifel, warum der Wachhabende sie angerufen hatte. Eine Prostituierte mit einer Augenverletzung, möglicherweise gewaltsam verursacht. Ein Opfer, dem es geglückt war, sich zu befreien? War dies der Fehler, auf den sie gewartet hatten?
Benin. Sanne stand auf, lächelte der Frau im Bett zu, ging auf den Flur und gab die Nummer des Wachhabenden in ihr Handy ein.
»Ich brauche einen Dolmetscher. Ja, für das, was in Benin gesprochen wird. Ja, in Afrika, danke.«
Es verging eine halbe Stunde, bis eine Polizeistreife mit dem Dolmetscher kam. Ein großer Mann mit einem sanften Gesicht, der sich als Samuel vorstellte. Er fing sofort an, sich mit der Frau zu unterhalten, aber bereits nach ein paar Sätzen drehte er sich um.
»Wir sprechen nicht dieselbe Sprache.«
»Aber ich hatte um einen Dolmetscher aus Benin gebeten.«
Samuel lächelte.
»Wir sprechen viele Sprachen in Benin. Ich spreche Yoruba, sie spricht Fon Gbè. Ich kann sie kaum verstehen. Sie spricht nur ein bisschen Französisch. Ich glaube, sie kommt aus einer der großen Städte im Süden, aus den Slums. Cotonou oder Porto Novo.«
Sanne nickte. So viel Glück sollten sie also doch nicht haben.
»Könnten Sie es trotzdem probieren?«, bat sie. »Oder können Sie überhaupt nichts verstehen?«
Samuel zuckte die Achseln.
»Ich verstehe ein bisschen, aber es ist sehr schwer. Ich bin nicht sicher, ob es richtig ist.«
»Wir probieren’s trotzdem. Fragen Sie sie, wie sie heißt.«
Im Laufe der nächsten halben Stunde förderte Samuel langsam die Geschichte der Frau zutage, quasi in Schlagzeilen. Sie hieß Abeiuwa, war neunzehn Jahre alt und stammte aus Benin, aus den Slums von Porto Novo, wie Samuel vermutet hatte. Sie war mit einem gut bezahlten Job in Europa gelockt worden – die klassische Geschichte. Mit einem Flugzeug ging es von Nigeria nach Turin, wo sie die erste erbärmliche Einführung in ihre neue Profession bekommen hatte. Nach einigen Monaten wurde sie weiterverkauft, diesmal nach Rotterdam. Die nächste Station hieß Kopenhagen. Hier lebte sie seit zwei Monaten. Sanne fror innerlich. Sie sah das Wissen in Abeiuwas Gesicht. Sie würde bald weiterziehen müssen. Die junge Frau wusste es, sie hatte längst akzeptiert, dass dies alles war, was das Leben ihr zu bieten hatte.
Ihren letzten Kunden hatte sie in der Nacht an der Ecke Vesterbrogade und Gasværksvej aufgelesen. Sanne versuchte mehrfach, eine Personenbeschreibung zu bekommen, doch Abeiuwa konnte sich nur daran erinnern, dass er alt war und eine Brille trug. Außerdem hatte er einen eigenartigen, starken Geruch gehabt. Sanne seufzte, das konnten sie ebenso gut überspringen.
Abeiuwa verpasste dem Kunden gerade den Blowjob, den sie vereinbart hatten, als sie mit einem Lappen betäubt wurde. Als sie aufwachte, hatte sie auf dem Betonfußboden eines dunklen Raums voller Holzkisten
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