Blutwind
einer Zusammenfassung des Falls und Miras Geschichte, dazu ein großes Foto des letzten Opfers in einem Krankenhausbett des Gentofte Hospital. Sie war neunzehn und kam aus Benin in Westafrika. Das Mädchen auf dem Foto sah aus, als sei sie nicht einen Tag älter als siebzehn. Das rechte Auge war mit einem großen Verband bedeckt, ein merkwürdiger weißer Fremdkörper in dem schwarzen Gesicht. Was er von ihr erkennen konnte, sah erschrocken und verängstigt aus.
Als er die Zeitung zusammenlegte, sah er, dass er während des Lesens den Teller leergegessen hatte. Mit der Zunge entfernte er die letzten Fleischreste aus den Zahnzwischenräumen. Er hatte keinen Geschmack im Mund, nur ein fettiges Gefühl im Rachen. Lars leerte das Wasserglas in einem Zug. Wie ging es eigentlich Sanne? Er musste daran denken, sich für das Abendessen zu bedanken. War es Montag gewesen? Bereits fünf Tage her.
Ulrik kam durch die Kantine auf ihn zu. Feste, zielbewusste Schritte. Es gab Leute, die die Fähigkeit hatten, immer zu den ungelegensten Zeitpunkten zu erscheinen.
Ulrik nickte, nahm sich einen Stuhl und setzte sich Lars gegenüber.
»Darf ich mich setzen?«
Er wollte nicht mit Ulrik reden. Und jetzt schon gar nicht.
»Ich habe von gestern gehört«, begann Ulrik.
Lars schob das Besteck auf dem leeren Teller herum. Seine Beine zuckten unter dem Tisch. Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Zeitung.
»Er hat’s wieder getan, sehe ich? Und die Zeitungen haben ihm bereits einen Namen gegeben.«
»Was?« Ulrik warf einen Blick auf das Extra Bladet neben Lars’ Teller. »Nun ja, armes Mädchen. Aber ich wollte über dich …« Er beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme. »Ich habe Tokes Bericht über gestern Nacht gelesen, und …« Er hielt inne, rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Können wir nicht in mein Büro gehen?«
Was bildete er sich ein? Wollte er ihm den Vergewaltigungsfall nun auch noch entziehen?
»Ich habe nichts zu verbergen.« Lars atmete tief durch, zwang seinen Puls zur Ruhe.
»Ah ja? Nun, es verhält sich folgendermaßen …« Ein einzelner Schweißtropfen rollte Ulrik in Zeitlupe über die Schläfe. »Es ist eine Beschwerde über dich eingegangen … über deine Art, die Ermittlungen zu leiten.« Er hatte einen roten Kopf bekommen, senkte die Stimme. »Es gibt Personen in deinem Team, Personen mit einem gewissen Dienstalter, die meinen, du hättest die Sache nicht im Griff. Es gäbe Spuren, die nicht verfolgt würden …«
»Kim A .«, murmelte Lars. »Du weißt, worum es dabei geht. Du warst selbst dabei.«
»So einfach ist es aber nicht. Frank und Lisa haben ebenfalls unterschrieben. Kim A . ist nicht blöd. Ich muss dazu Stellung nehmen.«
Eigentlich war es nicht Ulriks Schuld, aber er hatte eine unglaubliche Lust, auf irgendjemanden oder irgendetwas einzuschlagen. Unter dem Tisch ballte er die Hand zur Faust.
»Lars. Ich versuche, dir zu helfen.« Ulrik legte die Hände offen auf den Tisch.
Er musste raus, er brauchte Luft. Er stand auf und schubste den Stuhl mit einem heftigen Tritt zurück. Der Stuhl rutschte über den Boden und stieß mit einem metallischen Klirren gegen den Tisch hinter ihnen. Die Beamtin am Eingang blickte erschrocken auf.
»Verflucht noch mal, mach doch, was du willst.«
Er verließ die Kantine, ohne sich umzusehen.
33
Lars wankte in seine Wohnung, sein Herz hämmerte. Wieder versuchte er, die Erinnerungen an die Geräusche aus Marias Zimmer zu verdrängen. Die Hyperaktivität ließ nach. Sein Kopf tat ihm weh, er hatte Schmerzen im Kiefer. Außerdem war er müde. Jede Faser seines Körpers schrie nach Ruhe und Vergessen. Cold Turkey. Er musste pinkeln, ihm platzte beinahe die Blase. Er warf die Jacke auf den Boden und ging ins Badezimmer. Maria hatte seine nassen Sachen von letzter Nacht über die Stange des Duschvorhangs gehängt. Er klappte die Brille hoch, pinkelte. Als er sich im Spiegel sah, trat er vor Schreck einen Schritt zurück. Er war schockiert. Aschgraue Haut, große Tränensäcke, in den Augen ein gehetzter Ausdruck. Das Haar verklebt. Außerdem brauchte er dringend eine Rasur.
Auf dem Rand des Waschbeckens lag eine ausgedrückte Zahnpastatube, der Verschluss mit einem eingetrockneten Rand aus grauweißer Masse lag auf der anderen Seite des Wasserhahns. Wann lernte sie endlich, hinter sich aufzuräumen? Er knallte die Brille herunter, wusch sich die Hände. Griff nach der flachen Zahnpastatube und trat auf den Hebel, der den Deckel
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