Blutwind
Lachen.
»Bist du Weinexpertin?«
»Martin wäre es gern. Er surft abends im Netz. Nein, ich habe noch keinen von beiden probiert. Die Namen sind bloß hängen geblieben.« Sie trocknete sich die Augen, stellte ihr Glas ab und sah ihn an. »Du musst es nur sagen, wenn du nicht darüber reden willst. Aber diese Beschwerde …«
Lars zuckte die Achseln. »Frag ruhig.«
»Na ja, ich verstehe das nicht … du und Ulrik …« Sie zögerte. »Ihr habt euch verkracht. Aber was hat das mit der Beschwerde zu tun? Kim A . hat doch nichts mit dir und Ulrik zu tun, oder?«
Lars biss sich von innen auf die Wange, während er nachdachte. Der Alkohol brannte im Mund.
»Das ist eine lange Geschichte, sie reicht beinahe zwanzig Jahre zurück.«
Sanne sah ihn an, abwartend. Er seufzte.
»1993 haben Ulrik und ich die Polizeischule beendet und fingen als Polizeianwärter auf der Station 1 an. Am 18. Mai hatten wir gewöhnlichen Streifendienst in der Innenstadt. Im Laufe des Abends hörten wir, dass es in Nørrebro immer gewalttätiger zuging. Aber uns wurde gesagt, dass wir auf der anderen Seite der Seen bleiben sollten, an der Kreuzung Frederiksborggade und Nørre Farimagsgade. Und als es richtig heiß herging, kommt uns jemand vom Überfallkommando mit einem Verhafteten in Handschellen entgegen, Kim A . Er reißt die Tür unseres Wagens auf und schmeißt den jungen Burschen geradezu auf den Rücksitz. Fängt an, ihn zu durchsuchen, wobei er ihn übel beleidigt. Der Verhaftete lässt sich das aber nicht gefallen und brüllt zurück. Ulrik versucht, sie zu beruhigen. Kim A . schubst den Jungen, der schubst zurück. Und plötzlich knallt Kim A . ihm die Faust in den Magen. Der Bursche klappt auf dem Rücksitz zusammen, ringt nach Atem. Ich habe Kim A . im Rückspiegel angesehen und gesagt, wenn er den Jungen noch einmal anfasst, würden wir direkt aufs Revier fahren und ihn wegen Körperverletzung im Dienst anzeigen. Du hättest sein Gesicht sehen sollen.
Na ja, Ulrik wollte wissen, weshalb der Junge verhaftet war. Kim A . murmelte irgendetwas und starrte mich weiterhin im Rückspiegel an.«
»Und was ist dann passiert?«
»Er hat den Burschen laufen lassen. Und blieb sitzen. Zwei Minuten hat er mich angeglotzt und versucht, mir Angst einzujagen. Dann stieg er aus und ging, in Richtung Nørrebro.« Lars zuckte die Achseln. »Am Anfang, in den Monaten danach, hat er versucht, mir etwas anzuhängen. Aber Ulrik hatte das Ganze ja auch gesehen, Kim A . hätte wegen Körperverletzung belangt werden können. Seitdem herrscht dicke Luft. Es ist das erste Mal, dass er bei einer Ermittlung mitarbeitet, die ich leite. Es musste einfach schiefgehen. Auf der anderen Seite sollte man meinen, nach beinahe zwanzig Jahren …«
Sanne schaute aus dem Fenster.
»In Kolding passiert es hin und wieder, dass ein alter Bekannter in einem Streifenwagen eine Abreibung bekommt. Allerdings machen das nicht alle … ich war zum Beispiel noch nie dabei. Aber ich weiß, dass es passiert. Und in der Regel haben sie es verdient.«
»Vermutlich sehe ich’s noch aus einer anderen Perspektive.«
»Was meinst du?«
Lars zögerte. Aber früher oder später würde sie es ohnehin erfahren. Er konnte es ihr ebenso selbst erzählen.
»Bevor ich zur Polizei kam, also, als ich noch aufs Gymnasium ging, war ich Punker und habe auch ein paar Häuser besetzt.«
Das Glas klirrte, als Sanne es auf den Tisch stellte.
»Ruhig.« Er hob die Hände, versuchte zu lachen. »Ich habe weder Steine geschmissen noch Kloschüsseln aus dem Fenster geworfen.«
Sie sah ihm in die Augen, hielt seinen Blick lange fest.
»Erzähl.«
Es waren die achtziger Jahre. Atomkraft, Jugendarbeitslosigkeit, Krise. Nichts zu tun, wenn man nicht gerade Handball spielen wollte. Die ersten Punks hatten ein paar Jahre vorher bewiesen, dass es möglich war, selbst etwas auf die Beine zu stellen, eine eigene Szene zu bilden. Und es gab ein unglaubliches Bedürfnis nach einem eigenen Ort, einem Haus, über das man selbst bestimmen konnte. Es fing in Nørrebro an, bevor er alt genug war, um mitzumachen. Die Brotfabrik Schiønning og Arvé – darüber hatte er nur in den Zeitungen gelesen oder etwas im Radio gehört. Seine Mutter forderte ihn auf, sich den Jugendlichen anzuschließen, aufzubegehren. Aber er hatte keine Ideologie, kein politisches Bewusstsein, nur ein unklares Bedürfnis nach etwas anderem. Mehr aus Trotz zogen ihn die Aktivitäten um die jungen Punks und Hausbesetzer an.
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