Blutwind
Hier passierte etwas, hier gab es Leute, die versuchten etwas anderes zu tun, etwas, das nicht infiziert war von den ewigen Grabenkämpfen der Erwachsenen. Hier gab es Farben, Leben, Feten. Damals gab es noch keine Gewalt, niemand schmiss mit Steinen oder Molotow-Cocktails. Es handelte sich lediglich um eine Gruppe entwurzelter Jugendlicher, die etwas anderes wollten. Und dann gab es noch die Musik: wild und heftig. Hart, schnell und frenetisch. Schön wie Steinschlag und voll von der Poesie des Untergangs. Sie zerriss den Staub und den Nebel, der die Sinne betäubte, befreite die Seele und entblößte das blutende Fleisch. Die Sods hatte er im Radio gehört, außerdem gab es eine Band, die Bollocks hieß. Ballet Mécanique. Und Kliché.
Dann, Ende Oktober 1981, las er von einer Demonstration für ein Jugendhaus. Es war ein düsterer Tag, schwere graue Wolken hingen über dem Rathausplatz. Vor dem enormen Rathaus sah der Tieflader sehr klein aus. Ein Trio in Lederjacken und kurzen Haaren spielte darauf schnellen Punk. Es half, es wärmte, obwohl der Sturm die Klänge über dem großen Platz verwehte. Die Passagiere der Buslinie 6, die von der Vesterbrogade auf den Platz einbog, starrten fassungslos auf die bunte Schar, die vor dem Rathaus fröstelte. Die Demonstration sollte nach Nørrebro gehen, so war es angemeldet, doch als das Punk-Trio aufhörte, wurde in die Megaphone gerufen, dass man sich den vordersten Demonstranten anschließen sollte. Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung und wurde schneller – und plötzlich liefen alle über die Vesterbrogade. Die überrumpelten Polizisten, die die Demonstration überwachen sollten, waren völlig überfordert. Mehrere hundert Menschen rannten über die breiteste und meistbefahrene Straße von Kopenhagen.
Lars befand sich ungefähr in der Mitte der Menschenmenge, seine Beine bewegten sich kraftvoll unter ihm, erfüllt von der totalen Befreiung. Alles in ihm schien zu zerbersten durch das Bewusstsein zu handeln, ein Teil von etwas zu sein. Die Demonstrationsleitung hatte in aller Heimlichkeit geplant, die Demonstration nach Vesterbro zur alten, leerstehenden Abel-Cathrines-Stiftung in der Abel Cathrines Gade umzuleiten und das Gebäude zu besetzen. Sogar Leitern waren besorgt worden, damit man die Fenster im ersten Stock erreichen konnte. An diesem Abend gab es ein Fest, ein berauschendes Kollektiv an Farben, Musik und Menschen. Lars hüpfte glücklich von Gruppe zu Gruppe, bekam hier etwas zu trinken, dort einen Zug aus einem Joint, und plötzlich fand er sich mit einem rothaarigen Mädchen in der Ecke eines der vielen kleinen Räume des Stifts wieder. Die Musik und die Stimmen verschwammen, dumpfe Stöße aus einer Welt, die weit, weit entfernt lag. Sie küssten sich heftig und ungeschickt, ließen die Hände über die Kleidung wandern. Aber seine rastlose Energie trieb ihn weiter; ziellos lief er im Gebäude und später in der neonbeleuchteten Nacht umher. Wo das Mädchen geblieben war, fand er nie heraus, er hatte sie nicht wiedergesehen. Aber er kam nun häufig in das besetzte Haus, zu Konzerten mit ADS oder Under For.
Lars drückte seine King’s im Aschenbecher aus, folgte dem Rauch, der in trägen Wellen zur Decke aufstieg. Draußen ging die Dämmerung in Nacht über.
Sanne sagte nichts, ihr Gesicht lag im Schatten des dunklen Raums.
»Und die Pointe ist die«, sagte er und versuchte, ihr in die Augen zu sehen, »dass es während der gesamten Besetzung nicht zu einer einzigen Konfrontation mit der Polizei kam; einige Monate später haben alle das Gebäude freiwillig wieder verlassen.«
Sanne blinzelte, trank einen kleinen Schluck Wein. Man sah ihr an, dass sie Schwierigkeiten hatte, dies alles zu verstehen. Aber sie versuchte es.
»Kennt Kim A . diese Geschichte?«
»Keine Ahnung.« Lars schüttelte den Kopf. »Aber es sollte mich wundern, wenn er nicht sämtliche Akten durchforstet hätte, um etwas über mich zu finden.«
Sanne nickte, massierte ihre Schläfen.
»Aber … wenn du nichts getan hast … dann bist du doch auch nirgendwo registriert?«
Er lächelte nachsichtig, und Sanne versuchte zu lachen.
»Ein Polizist mit einer Vergangenheit als Autonomer. Du bist vermutlich der Erste.«
»Autonomer? Ich war Punker und eher am Rand dabei, als alles anfing. Abends ging ich nach Hause zu meiner Mutter und machte Hausaufgaben. Da gab’s nicht sonderlich viel Aufruhr. Aber ich freue mich, dass du darüber lachen kannst.« Er nahm sein Glas,
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