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Blutwind

Blutwind

Titel: Blutwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Melander
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umfasste vorsichtig das Handgelenk der Toten. Es fühlte sich fremdartig an, wie Hartgummi. Sie hob die Hand. Die Haut rund um das Handgelenk war zerkratzt. Als hätte jemand an ihrem Handgelenk gefeilt.
    Sanne sah Frelsén an.
    »Ja.« Er setzte die goldgefasste Brille auf die Nase. Plötzlich war Leben in seinen müden Augen. Er hockte sich neben Sanne und inspizierte das Handgelenk. »Das sieht eigenartig aus. Aufs Erste würde ich sagen, sie war noch eine gewisse Zeit nach Eintritt des Todes mit einem groben Strick gefesselt. Das Gewebe ist zerstört, aber es gibt keine Blutspuren.«
    »Wer kommt denn auf die Idee, eine Leiche zu fesseln?«
    Hinter ihnen kamen Sanitäter die Böschung hinunter und balancierten eine Bahre zwischen sich.
    »Tja«, sagte er und blinzelte. »Das genau ist die Frage. Wer kommt auf solche Ideen?«
    *
    Wenn der Blutwind getobt hat, bleibt nur das Wesentliche zurück. Mahler. Kohlsuppe. Der Urgrund. Mutter ist tot. Bis zuletzt hat sie in ihrer alten Kammer geschrien. All das, was nicht gesagt werden durfte, hat sie herausgebrüllt. Und mit jedem Wort ist sie mehr verschrumpelt und zusammengefallen. Vater ist Großvater, Großvater hat Vater ermordet. Jetzt, wo er endlich die Wahrheit kennt, versteht er, woher sie kommt, diese Kraft, die in ihm tobt. Wenn er zwischen seine Beine schaut, die sich über den Kontinentalplatten spreizen, sieht er einen Punkt, der sich um die eigene Achse dreht, dunkelrot, pulsierend. Unfassbar, brennend heiß. Der Punkt strahlt eine erschreckende Stärke aus, alles schmilzt bei diesem Anblick. Das Fleisch fällt von den Knochen, das Blut kocht. Die Körpersekrete zischen, treten als weißgelbe Dampfsäulen aus. Die Augen tränen, siedend heiß brodelt es aus ihren Höhlen. Dies ist die Urkraft des Lebens, so unendlich viel größer, als er es je zuvor erlebt hat. So vital und alles verschlingend, dass er sich diesem eisernen Willen beugen muss. Es ist der Blutwind. Der Spalt ist geöffnet. Er kann nicht mehr geschlossen werden. Nichts kann es eindämmen, es will raus. Und er ist der Diener des Blutwinds. Dieses Haus, diese Balken, Steine und Sparren, sind der Ursprung dieses alles verzehrenden Willens, der die Welt brandmarken wird. Dessen Instrument zu sein lässt seinen Brustkasten anschwellen. Er, der es nicht vermochte, die gedankenlose, reine Triebkraft des Blutwinds zu sehen. Diesen nackten Instinkt, der auf seinem Weg alles verzehrt. Jetzt ist er der Träger dieses Wunders. Die Revolte, die Aufsässigkeit der Mädchen, war Teil eines größeren Plans. Auch sie hatten ihre Rolle zu spielen. Und dieses Wissen lässt ihn die Bürde leichter tragen. Denn der Wille muss wissen, dass es nicht leicht gewesen ist, die Kinder auszusetzen. Die zu züchtigen, die man liebt. Doch wenn das Ziel klar ist, wenn dessen reine Triebkraft strahlt, kann er alles ertragen. Er schaut auf Sonja, und eine Woge der Liebe erfasst ihn. Sie ist die Einzige, die ihm noch geblieben ist. Hilda musste gehen, wie Karen und andere vor ihr. Die Kohlsuppe dampft auf dem Tisch. Er schiebt ihr den Teller zu. Iss, mein Mädchen. Ich vermisse sie auch. Aber wir alle müssen Opfer bringen. Und der Blutwind hat mir gezeigt, dass wir bald wieder vollzählig sein werden.
    Sie sind uns nur vorausgegangen
    Und werden nicht wieder nach Hause verlangen!
    Wir holen sie ein auf jenen Höh’n
    Im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh’n!

Montag, 23. Juni

45
    Morgendliche Straßengeräusche. Ein Besoffener kotzte vor das Ring-Café. Das Rauschen der S -Bahn bei der Einfahrt in die Station. Vogelgezwitscher auf der Straße. Maria unter der Dusche. Lars schlug die Augen auf. Er hatte sich gestern nicht betrunken, und doch tobte ein spitzer Schmerz hinter seinen Augäpfeln. Er musste aufhören, billigen Rotwein zu trinken.
    Der Abend kehrte zurück. Die Bilder von ihm und Sanne auf dem Sofa. Die Geschichte der Besetzung der Abel Cathrines Gade, die durchaus der Wahrheit entsprach. Aber warum hatte er ihr nicht von den Demos danach erzählt? Von den Straßenkämpfen, von dem berauschenden Gefühl, wenn der Pflasterstein aus der Hand flog und durch den Himmel auf die blauen Ketten zusegelte? Von dem adrenalingepeitschten Hochgefühl, wenn er seinen späteren Kollegen davonlief, von dem Halstuch vor dem Gesicht, der Romantisierung der Straßenpartisanen? Von den Drogen?
    Er hustete, konzentrierte sich wieder auf den Vorabend. Den Kuss, Maria, die weinend hereinkam. Er rieb sich die Augen.

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