Blutzeichen
solltest du aber. Du hast mit ihm gebumst. Na ja, reine Vermutung, aber – «
»Ich weiß nicht, wen Sie – «
»Andrew Thomas.«
»Was wollen Sie von ihm?«
»Vor sieben Jahren hat Andrew auf mich geschossen und mich sterbend in einer tief verschneiten Wüste zurückgelassen.«
»Das tut mir Leid.«
»Nein, das muss es nicht. Was ich mir für ihn ausgedacht habe, macht all das wieder wett. Ach, noch etwas. Denk gut nach, bevor du antwortest. Glaubst du, dass du ein schlechter Mensch bist?«
»Nein, ich – «
»Warum nicht?«
Der Atem ihres Kidnappers fühlte sich warm auf ihren Lippen an, während sie an all die wohltätigen Dinge dachte, die sie im vergangenen Jahr getan hatte – mittwochs in der Suppenküche auf der 54th Street ausgeholfen, junge Autoren bis zum Erscheinen ihres ersten Romans betreut, den Engelbaum beim Ice-Blink-Verlag ins Leben gerufen.
»Ich bin ein anständiger Mensch«, sagte sie.
»Und ich? Nach der kurzen Zeit, die du mich kennst. Bin ich schlecht?«
»Nein, Sir. Das glaube ich nicht. Ich kenne Sie nicht. Ich weiß nichts über Ihre Herkunft. Ich weiß nicht, welche Tragödien Ihnen widerfahren sind. Ich bin sicher, dass es Gründe dafür gibt, dass Sie so…«
»Zerstörerisch handeln?«
»Ja.«
»Gibt es überhaupt schlechte Menschen, Karen?«
»Menschen werden verletzt. Ihr Handeln erscheint dann gestört. Aber ich glaube nicht an das Schlechte an sich.«
»Ich verstehe. Danke, dass du so unvoreingenommen mit mir sprichst.«
Ihre Augenbinde wurde abgenommen.
Karen starrte durch Gitterstäbe auf einen Pinienwald, der sich über eine halbe Meile hin bis zu einem Streifen Marschland und den Sanddünen des Atlantiks erstreckte. Aus dieser Höhe und Entfernung wirkte das Meer ruhig, obwohl sie im Licht des gelben Mondes den ganzen Küstenstreifen entlang vereinzelt Schaumkronen auf dem Wasser erkennen konnte.
Ihr Entführer war verschwunden.
Es gelang ihr, sich aufzusetzen und zu erkennen, dass sie sich auf einer kleinen, von einem Eisengeländer gesicherten Aussichtsplattform befand. Hinter ihrem Rücken führte eine mindestens ein Meter achtzig hohe Leiter zum Lichtraum des Leuchtturms von Bodie Island.
Der Lichtstrahl blendete. Er blitzte für 2,5 Sekunden auf und verschwand für 2,5 Sekunden. 2,5 Sekunden an, 2,5 Sekunden aus. Dieser Rhythmus wiederholte sich von der Abend- bis zur Morgendämmerung, auch wenn sie die gewaltige Linse, die das Leuchtfeuer 160000-fach gebündelt über das Meer schickte, nicht sehen konnte.
Karen zog an den Stricken, aber die Knoten hielten. Während sie über die Plattform kroch, folgte ihr Blick dem Highway 12, der sich zwischen Strand und Marschwiesen erstreckte und schließlich drei Meilen weiter südlich über das aufgewühlte Wasser der Oregon-Bucht auf die Insel Pea führte. Von da aus waren es noch sechzig Meilen entlang der verlassenen Küste und vorbei an winzigen direkt am Strand gelegenen Dörfern bis nach Cape Hatteras, Ocracoke und den Core Banks.
Aber sie kannte diese Ortsbezeichnungen nicht.
Sie wusste nicht einmal, dass sie sich in North Carolina befand oder dass ihr Entführer im Heizungsraum mit einem Seitenschneider zwei Schlösser aufgeschnitten hatte und sie die enge Wendeltreppe des 131 Jahre alten Leuchtturms hochgetragen hatte.
Wie zur Hölle komme ich von hier runter? Verdammt, ich werde einen Weg finden! Einen Wagen anhalten. Zu einem Flughafen gelangen. Scott Boylin anrufen, damit er etwas Geld schickt. Es wird so wundervoll sein, zurück in meine Wohnung zu kommen. Das Erste, was ich tun werde, ist, Ashley Chambliss hören und ohne schlechtes Gewissen eine ganze Flasche Chardonnay trinken. Von jetzt an wird alles anders sein. Ich werde ein besserer Mensch werden. Bessere Bücher auf den Markt bringen. Aufhören, auf der Überholspur zu leben. Diese Erfahrung mag sich sogar als –
Als sie die Plattform des Lichtraums weiter umrundete, erstarrte sie plötzlich.
O Gott, warum ist er immer noch hier und kauert über einem Haufen Seile?
Der Mann mit den langen schwarzen Haaren blickte über seine Schulter und lächelte.
»Bin gleich bei dir, Karen.«
Als er sich umdrehte und aufstand, sah sie, dass er eine Schlinge am Seilende festhielt.
Er kam auf sie zu, und während sie von ihm wegzukriechen versuchte, ließ er die Schlinge über ihren Kopf gleiten. Dann schulterte er sie und setzte sie mit dem Gesicht zu sich gewandt auf das Geländer.
Unfähig zu schreien, schaute Karen über ihre Schulter und
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