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Blutzeichen

Titel: Blutzeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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fühlte ein scharfes Stechen im Magen. Ganz weit unten konnte sie auf dem Granitsockel des Leuchtturms den angrenzenden Heizungsraum erkennen. Sie sah das Dach des nahe gelegenen Wächterhäuschens und den Besucherparkplatz. Im Westen konnte sie hinter den Marschwiesen den Pamlico Sound erkennen und noch weiter weg die blinkenden roten Lichter des Funkturms auf dem Festland.
    »Dies hier ist ein schwarzweiß gestreifter Leuchtturm«, sagte der Mann. »Ich hab das Seil so abgemessen, dass du mit Blick auf das Besucherzentrum in Höhe eines weißen Streifen hängen wirst. Stell dir das Gesicht desjenigen vor, der dich als Erster sieht. Vielleicht eine Familie im Minivan aus dem Mittleren Westen mit vielen kleinen Kindern.«
    Er lachte.
    Karen schaute auf das ordentlich zusammengerollte Kletterseil zu seinen Füßen und den dicken Knoten, mit dem er es am Geländer befestigt hatte. Er hielt sie am Gürtel ihres Bademantels fest, den sie seit Beginn ihrer Entführung trug.
    Sie suchte in seinen Augen nach Vernunft und fand sie. Sein Blick war weder wild noch gefühllos, sondern schwarz und klar. Aber wenn sie brannten, war es, als ob Glut in ihnen schwelte.
    Er hielt sie jetzt nur noch mit einer Hand fest und strich sich mit der anderen die Haare aus den Augen.
    Karen spürte die Schwerkraft wie einen wasserlosen Sog.
    Sie erbrach sich auf seine Windjacke, aber er ließ nicht los.
    »Karen«, sagte er. »Glaubst du an das Gute?«
    Er ließ ihren Gürtel los und beobachtete, wie sie fiel.
    Sie schrie zwei Sekunden lang, dann brachte das Seil sie zum Schweigen.
    Fünfzehn Meter über dem Rasen schwang sie wie ein Pendel am Leuchtturm hin und her.

19. Kapitel
     
    Um zwei Uhr morgens fährt der Chevrolet in Richtung Süden über Ocracoke Island, einem schmalen, nicht mal eine halbe Meile breiten Landstrich. Im Westen dehnt sich der Pamlico Sound in der Dunkelheit aus. Auf der Wasserseite leuchtet der Atlantik unter dem fahlen Oktobermond wie schwarzes Blut.
    Elizabeth Lancing schläft traumlos im Kofferraum.
    Der Fahrer hinter dem Lenkrad ist müde und glücklich, bei heruntergedrehter Fensterscheibe wehen ihm die Haare über das blasse Gesicht. Er atmet tief ein, die laue Luft riecht nach Seetang und Salzwasser, nach Treibholz und Fischkadavern, die auf dem von den Gezeiten geglätteten Sand liegen.
    Irgendwann erblickt er hinter den Dünen, die nun das Meer verdecken, seine Heimatstadt – ein schwaches Glühen vor dem schwarzen Horizont.
    Jetzt bin ich gespannt, Andrew, wirst du nun kommen, nachdem ich dir den Weg gezeigt habe?

Violet
     
     
    »Joel, ich muss nachschaun, kann nicht reingehen,
    Kann so was nicht auf sich beruhen lassen.
    Verschlossene Türen, zugezogene Vorhänge,
    Stets war mir unwohl beim Nachhausekommen
    Das Haus zu dunkel nach so langer Zeit.
    Und dann der Schlüssel, der im Schloss knarrt,
    Erschien mir eine Warnung für jemanden zu sein:
    Er müsse raus zu einer Tür,
    Wenn wir durch eine andere treten.
    Was, wenn ich Recht hab,
    Was, wenn all die Zeit ist jemand –
     
    Lass mich los!«
     
    »Ich sage, jemand geht vorbei.«
     
    »Du sprichst, als sei die Straße viel befahren.
    Vergisst, wo wir hier sind, dass nach uns nichts mehr ist.
    Wo kommt er her, wo kann er hin des Nachts,
    Auch noch zu Fuß?
    Warum stand er, meinst du, reglos im Gebüsch?«
     
     
    – Robert Frost, Die Angst

20. Kapitel
     
    An jedem letzten Mittwoch im Monat findet in der Leuchtturm-Baptistenkirche seit jeher der Spaghetti-Abend statt. Das ist Tradition, geradezu eine beruhigende Notwendigkeit für die christliche Gemeinde.
    Die Gemeindemitglieder gingen von der Küche in den Versammlungsraum, wie sie es in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren jeden Mittwochabend getan hatten. Jeder Kirchgänger trug einen Pappteller mit gebratenen Spaghetti, Hefebrötchen und Salat und einen Styroporbecher mit süßem Tee.
    Die Brüder und Schwestern speisten an den runden Klapptischen, genossen fröhlich das langweilige Essen, während aus den Lautsprechern auf der Bühne Lobgesang erschallte und der Versammlungssaal von Kindergeschrei und angeregter Unterhaltung erfüllt wurde. Durch die hohen Fenster drang das Licht der untergehenden Sonne immer schwächer herein, bis nur noch ein lila Schimmer am Oktoberhimmel zu erkennen war.
    Violet King saß mit ihren Eltern Ebert und Evelyn und einem Freund ihrer Eltern namens Charles an einem Tisch. Charles war dreißig, allein stehend und voller Enthusiasmus für Jesus. Violet missfiel

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