Blutzeichen
Sie ist sofort wieder raus und hat die 911 gewählt. Ich bin kurz nach fünf hier eingetroffen.
Ein Junge liegt unter dem Tisch in der Küche. Das andere Kind in seinem Bett. Bei den Kindern hab ich kein Blut gesehen. Zach und Theresa Worthington sind in ihrem Schlafzimmer… sieht schlimm aus. Ich konnte nicht sehr lange dort bleiben, Violet. Tut mir Leid, ich hab nur – «
»Schon in Ordnung, Bruce. Ist ja auch nicht dein Job. Wie heißen die Kinder?«
»Hank und Ben. Sie waren elf und sieben. Ben ist der unter dem Tisch.«
»Okay, das mobile Einsatzkommando müsste jeden Moment hier eintreffen. Reuben schirmt den Tatort ab. Ich möchte, dass du rüber zu Mrs Moorefield gehst und sie beruhigst. Ich werde reingehen und mich umsehen, bevor der Erkennungsdienst mit der Aufzeichnung beginnt. Ich möchte mit Mrs Moorefield reden, während die hier ihre Arbeit machen, also sieh zu, dass sie nicht wegläuft.«
Als Bruce die Auffahrt wieder hochging, rieb sich Violet die Arme. Sie hatte ihre Barbourjacke im Versammlungsraum der Kirche liegen lassen, und vom See wehte nun eine kalte Brise herüber, die die toten Blätter von den gewaltigen Eichen im Vorgarten riss.
Sie sammelte sich einen Moment lang, dann ging sie auf die Veranda zu, auf deren Stufen sie eine Gruppe laut redender Polizisten in Empfang nahm. Sie schüchterten sie ein, aber damit würde sie umgehen können. Mehr Sorgen bereitete ihr, was sie im Haus erwartete.
22. Kapitel
Violet streifte ihre hochhackigen Schuhe ab und schlüpfte mit ihren kleinen Füßen in ein Paar Textilpantoffeln. Dann quetschte sie ihre Hände in Latexhandschuhe und erhob sich.
Der Polizist, der an der Haustür der Worthingtons Protokoll führen musste, trug ihren Namen und die Uhrzeit ihres Eintretens in eine Liste ein. Da sie sich nur einen flüchtigen Überblick verschaffen wollte, betrat sie das Haus allein. Ein Tatort ist eine empfindliche Umgebung, und je mehr Leute kommen und gehen, desto mehr Beweise werden vernichtet.
»Ich beeile mich, Jungs«, sagte sie.
»Hey, Viking, möchtest du ein paar Wick-Bonbons?«, fragte sie einer der Techniker. »Nach dem, was Bruce erzählt hat, ist es da drinnen ziemlich blutig.«
»Nein, schon in Ordnung.«
Sergeant Mullins meinte: »Ich habe Rick und Don angerufen. Sie kommen gleich morgen früh hier raus.«
»Gut, das bringt die Sache in Gang. Wir können uns jeder einen Raum vornehmen.«
Nur mit einer Taschenlampe, einem Notizblock und einem Bleistift bewaffnet, betrat Vi das Heim von Zach, Theresa, Hank und Ben Worthington und schloss die Tür hinter sich. In der Eingangshalle fielen ihr zwei Geräusche auf: das Rauschen der Zentralheizung und die Stimmen der Polizisten vorne auf der Veranda. Es war schön, nicht mehr in der Kälte zu stehen, allerdings war ihr auch bewusst, dass die Wärme den Geruch verstärken würde.
Das Haus war dunkel, genau der Zustand, den Bruce vorgefunden hatte.
Vi ging ins Esszimmer. Sie hatte noch kaum geatmet und ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Am Esstisch blieb sie stehen und wartete, bis sich die Konturen von den Schatten lösten.
Dann holte sie kurz Luft.
Süßlich. Schwer. Verwesung.
Ein Gestank, der an verfaulte Makkaroni mit Käse erinnerte.
So intensiv, dass sie ihn auf der Zunge spürte.
Sie sog noch einmal Luft durch die Nase ein und ließ sich vom Verwesungsgestank einhüllen. Während ihres zweiten Monats im Morddezernat war sie erstmals mit einem Selbstmord konfrontiert worden – vor zwei Sommern hatte sich ein vierundsiebzigjähriger Mann mit Alzheimer an einem schwülen Julinachmittag eine Kaliber 12 unters Kinn gehalten. Eine Woche später war er in einem kleinen Wohnwagen ohne Klimaanlage gefunden worden. Obwohl er fürchterlich stank, stellte sie zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass sie diesen unvermeidlichen, schrecklichen Geruch als Ehrerbietung und aus Mitleid für die Toten akzeptieren konnte. Diese viszerale Intimität verband sie zunächst mit dem Opfer und half ihr anschließend, den Mord zu entschlüsseln.
Ein großer fahler Mond stieg über dem Lake Norman auf und beschien den Linoleumboden in der Küche der Worthingtons.
Als Vi den kleinen Jungen unter dem Frühstückstisch sah, krampfte sich ihr Innerstes zusammen. Sie ging hinüber in die mondhelle Küche, kniete sich neben den Tisch und strich sich ihren Pony aus dem Gesicht. Sie schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete erst in das Gesicht des Jungen und dann den
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