Blutzeichen
herein.
»Liebes!«, rief Rufus.
»Was ist?«, hallte eine Stimme durch das Treppenhaus herab.
»Wir haben Besuch!«
»Ich komme sofort!«
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten oder – «
»Nein, danke.« Vi versank in ihrem Sessel, daher rutschte sie nach vorne auf den dazugehörigen Polsterschemel. »Ich warte auf Mrs Kite«, erklärte Vi. »Dann muss ich nicht alles zweimal erzählen.«
»Natürlich«, erwiderte Rufus, breit lächelnd. Vi lächelte zurück. Rufus griff in die Brusttasche seines Flanellhemdes und holte seine Zähne heraus. Er setzte sie ein und lächelte erneut. »Ihr erster Besuch auf Ocracoke?«
»Ja, Sir. Sie haben eine wunderschöne Insel.«
»Ocracoke ist etwas Besonderes. Vor allem jetzt zu dieser Jahreszeit, wenn die ganzen fürchterlichen Touristen wieder weg sind. Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf? In meinem Alter darf man so unhöfliche Fragen stellen.«
» Sechsundzwanzig.«
»Gütiger Himmel, Sie sind ja noch ein Kind!«
Schritte auf der Treppe lenkten die Aufmerksamkeit auf Mrs Kite, die vorsichtig die knarzenden Stufen herunterkam. Am Treppenabsatz blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen und den bogenförmigen Kragen ihres kanariengelben Sweatshirts mit der Applikation eines kleinen Hasen auf der Vorderseite gerade zu streichen.
Vi erhob sich und ging zurück in die Eingangshalle. Sie bekam Bauchkrämpfe bei dem Gedanken, dieser zarten, älteren Frau sagen zu müssen, wessen man ihren Sohn verdächtigte.
Mit ihren ein Meter sechsundfünfzig hatte Vi selten die Gelegenheit, auf jemanden herabzuschauen, aber nun sah sie von oben in die freundlichen, etwas überrascht blickenden Augen von Maxine Kite.
Nachdem Vi sich vorgestellt hatte und Maxine zum Sofa geleitet hatte, setzte sie sich wieder auf den Schemel.
»Mr und Mrs Kite, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichnen würde?«, fragte Vi und zog den Kassettenrekorder aus ihrer Tasche.
»Ich schon. Wir wissen ja noch gar nicht, worum es geht«, erwiderte Rufus.
»Oh! Okay.« Vi steckte den Rekorder zurück in ihre Tasche und schlug die Beine übereinander.
»Wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihrem Sohn Luther Kite gesprochen oder ihn gesehen?«
Rufus und Maxine blickten einander an. Rufus drückte die Hand seiner Frau und schaute wieder zu Vi.
»Wir haben seit sieben Jahren keinen Kontakt mehr zu unserem Sohn.«
»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«
»Nein, Ma’am.«
»Wo haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
Rufus lehnte sich auf dem Sofa zurück und legte einen Arm um Maxine. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und starrte in den Kamin, während seine mit Altersflecken übersäten, dicken Finger ihre knochige Schulter streichelten.
»Ich liebe meinen Jungen«, erklärte Maxine. »Aber er ist anders als die meisten Menschen. Er treibt sich herum. Für ihn sind andere Dinge wichtig als für uns. Er braucht keine Familie und – «
»Keinen Ruhepol«, warf Rufus ein. »Er wollte nie sesshaft werden. War nichts für ihn und das wusste er. Er wusste es ganz sicher. Auf gewisse Weise ist er bewundernswert. Sich selbst so gut zu kennen.«
»Er ist ein guter, guter Junge. Glücklicher mit sich alleine, glaube ich. Ein echter Einzelgänger. Hat er etwas angestellt, Miss King?«
Vi seufzte. Von der Küche wehte Fischgeruch zu ihnen ins Wohnzimmer.
»Die Sache ist die, wir sind uns noch nicht hundertprozentig sicher. Wir haben Luthers Fingerabdrücke an einem Tatort gefunden, daher würden wir gerne mit ihm reden und – «
»Was für ein Tatort?«, fragte Maxine.
»Das ist, nun… das darf ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Also, wo haben Sie ihn zuletzt gesehen:«
»Hier«, antwortete Maxine. »Es war an einem Heiligabend, wir hatten vorher eine Weile nichts von ihm gehört, aber das war nicht so ungewöhnlich. Nachdem er die Schule verlassen hat, haben wir ihn nicht mehr so oft gesehen.«
Die alte Frau wischte sich eine weiße Haarsträhne von der Wange, die immer noch auf der Brust ihres Mannes ruhte. »Rufus und ich waren in der Küche und haben Krabben geschält. Wir kochen Heiligabend immer etwas Besonderes. Ich hörte, wie sich Holz im Kamin bewegte, eilte hier herüber und da war mein Sohn, stand beim Kamin und stocherte im Feuer herum. Er fragte mich: ›Ist es in Ordnung, wenn ich Weihnachten mit euch verbringe, Mama?‹«
Maxine lächelte, ihr Blick wirkte betrübt und sie schluckte, als hätte sie einen Kloß im Hals.
»Er verließ uns am nächsten
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