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Blutzeichen

Titel: Blutzeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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hatte, schaute sie verwirrt zu mir auf.
    »Wer sind Sie?«, fragte sie, nun eine völlig andere Person.
    »Ich heiße Alex. Alex Young. Ich bin hierher gekommen, um-«
    »Wer hat Sie hereingelassen?«
    »Sie, Mrs Kite. Ich kannte Ihren Sohn Luther vom Woodside College.«
    »Luther? Ist er hier?«
    »Nein, Madam. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Wir waren während der Schulzeit befreundet. Ist er momentan in Ocracoke? Ich würde ihn wirklich gerne sehen.«
    Als sie eine Welle der Klarheit überkam, sprach aus ihren Augen Verwirrung und Trauer. Sie fasste sich an die Nasenwurzel, als hätte sie Kopfschmerzen.
    »Es tut mir Leid. Manchmal spielt mein Gehirn verrückt. Wie war Ihr Name?«
    »Alex. Wissen Sie, wo Luther – «
    »Und Sie waren mit meinem Luther befreundet?«
    »Ja, Madam. In Woodside. Ich bin hierher gekommen, um ihn zu sehen.«
    »Er ist nicht hier.«
    »Nun, vielleicht wissen Sie ja, wo er ist. Ich würde gerne – «
    »Ich habe meinen Sohn seit sieben Jahren nicht gesehen.«
    Ihre Augen blinzelten ein Dutzend Mal schnell hintereinander. Dann nahm sie eine Hand voll Maismehl, streute es über den Fisch und klopfte es in das Filet hinein.
    Plötzlich hieb sie mit der Hand auf den Tisch, dass mein Herz einen Satz machte.
    »Luther, beweg deinen Hintern, hol mir ein Glas Wasser!«
    Ich stand auf und ging zur Spüle, in der sich stinkendes Geschirr stapelte.
    »Wann fährst du runter nach Portsmouth?«, fragte sie, während ich ein dreckiges Glas wusch.
    »Ich weiß noch nicht.«
    Ich füllte das Glas mit Leitungswasser und reichte es ihr.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Sie haben um ein Glas Wasser gebeten – «
    »Den Teufel hab ich! Nimm das weg!« Ich stellte das Glas auf die Anrichte. »Falls du heute nach Portsmouth fährst, möchte ich, dass du aufbrichst, bevor es zu spät wird. Du solltest nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf dem Wasser sein. Und ich sage dir noch etwas. Ich möchte, dass du die Lodge in einwandfreiem Zustand hinterlässt. Dein Vater und ich planen, nächstes Wochenende runterzufahren, und ich habe nicht die Absicht, meine Zeit damit zu vergeuden, deinen Scheiß aufzuräumen.«
    Sie präparierte ein weiteres Filet, und während ich sie in dem düsteren Licht der Küche beobachtete, musste ich an meinen Großvater Alexander denken, der mit Ende siebzig an Alzheimer erkrankt war. Ich kannte die Symptome, und innerhalb der letzten fünf Minuten war mir klar geworden, dass irgendeine Form der Demenz Maxine Kites Gehirn zerstört hatte. Ich war entsetzt darüber, dass man sie allein gelassen hatte.
    Ich ging zur Tür.
    »Wohin gehst du?«, fragte sie.
    »Zur Toilette, Mutter.«
    Ich überließ Luthers Mutter ihren Makrelen, trat aus der Küche auf den dunklen Flur und ging auf die offene Tür an dessen Ende zu. Dabei empfand ich wieder diese zermürbende, unheimliche Stille dieses Hauses.
    Ich konnte weder Mrs Kite in der Küche noch das Seufzen des Windes draußen hören.
    Am Ende des Flurs drückte ich die Tür auf und betrat eine kleine, bücherlose Bibliothek, die von einem fast erloschenen Feuer erwärmt wurde. Die leeren Bücherregale waren ganz grau vor Staub.
    An einer Wand hing eine alte, fleckige amerikanische Flagge hinter Glas. Sie war angestaubt, fast vollständig verblichen, vom Feuer durchlöchert und so schäbig, dass ich mich fast dafür schämte, sie anzuschauen.
    Eine sorgfältig eingerahmte Fotografie hing über dem Kaminsims und erregte meine Aufmerksamkeit. Sie war gerahmt und aufgehängt worden. Als ich mich dem Kamin näherte, musste ich erstaunt feststellen, dass es sich um eine Satellitenaufnahme der Inselgruppe vor dem Pamlico Sound handelte. Ich erkannte die lange, schlanke Form der Insel Ocracoke an ihrem Hafen an der Südspitze.
    Weit mehr interessierten mich jedoch die unbewohnten Inseln ein paar Meilen weiter südlich hinter der seichten Bucht. Ich las ihre Namen: Casey. Sheep. Whalebone. Portsmouth.
    Portsmouth. Ich wandte mich von dem Foto ab und spürte die prickelnde Erregung dieser Entdeckung. Dann aber blieb mir das Herz stehen, als mein Blick auf die gegenüberliegende Wand fiel.
    Luthers schwarze, seelenlose Augen starrten mich von einer grotesken, amateurhaften Karikatur an. Obwohl er auf dem Ölgemälde erst ein Teenager war, hatten seine Augen schon diese unverkennbare Leere, eine unheimliche Andeutung dessen, was aus ihm werden würde.
    Ich verließ eilig die Bibliothek, schlich an der Küche vorbei, in der Mrs Kite immer noch

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