Boardwalk Empire
Hauptsaison begann. Jedes Hotel verfügte über einen eigenen Speisesaal mit gewissen Extras. Manchmal handelte es sich nur um eine nette kleine Terrasse oder eine intime Cocktailbar, oft war es ein großer Ballsaal oder ein Swimmingpool, aber immer war es etwas Besonderes.
Die meisten Besucher von Atlantic City waren Stammgäste, die jeden Sommer in ihr Lieblingshotel und ihre vertraute Umgebung zurückkehrten. Es war nicht ungewöhnlich, dass nachfolgende Generationen sich ins selbe Hotel einbuchten, in dem sie schon als Kinder mit ihren Eltern Urlaub gemacht hatten. Doch die Welt drehte sich weiter, nur Atlantic City nicht. Aus den Kindern wurden Erwachsene, und für die war der Ferienort plötzlich nur noch zweite Wahl. Als die Hoteliers und Geschäftsleute rund um den Boardwalk langsam merkten, dass ihnen die Stammgäste abhandenkamen, wurden sie erst nervös, und mit sinkenden Umsätzen erfasste sie eine regelrechte Panik. Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre begannen sie mit dem Ausverkauf. Sie ahnten, dass ihre Stadt ohne Urlaubsgäste bald in Vergessenheit geriet, und sie wollten weg, bevor es noch schlimmer kam.
Die Hotelbesitzer der dritten und vierten Generation wurden ersetzt durch Investoren, die noch an den Mythos vom nationalen Urlaubsort glaubten. Sie erlebten eine unangenehme Überraschung, denn es kamen weitaus weniger Touristen, als sie erhofft hatten. Die Hotelbetreiber reagierten, indem sie rigoros die Geschäftskosten senkten, und als Erstes mussten die Speisesäle dran glauben. Den meisten der neuen Hoteliers fehlte die Erfahrung, um mit Hotelrestaurants Umsatz zu erzielen, also wurden sie entsorgt. Damit nahm man besonders den kleineren Hotels ihr Alleinstellungsmerkmal, und noch mehr von ihnen gingen pleite. Die Nebensaisonen gestalteten sich schleppend, und schon bald waren ganzjährige Öffnungszeiten nicht mehr zu rechtfertigen. Viele der kleineren Hotels und Pensionen schlossen aufgrund von massiven Kürzungen von Oktober bis Mai. Es war das Ende des ganzjährigen Tourismus rund um den Boardwalk – das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt war gebrochen.
Die Hotels galten nicht nur als altmodisch, es kümmerte sich auch niemand mehr um sie, denn sinkende Gewinne bedeuteten weniger Geld für ihre Instandhaltung. Wenn man in Urlaub fährt, erwartet man in der Regel bessere Lebensverhältnisse als zu Hause – die Besucher von Atlantic City trafen auf schlechtere. Die rasant wachsende Zahl neuer Eigenheime bescherte der amerikanischen Mittelklasse ein Maß an Komfort und Privatsphäre, von dem ihre Großeltern nicht zu träumen wagten. Damit veränderten sich auch die Ansprüche der Urlauber, nicht aber der Standard Atlantic Citys. Der moderne Urlauber teilte sich kein Badezimmer mehr, schlief nicht mehr in einem kleinen Raum ohne Klimaanlage oder lief zwei Blocks bis zu seinem Auto. Atlantic City lockte zwar durchaus noch ein paar Besucher an, aber niemand von denen kam je wieder.
Viele Hotelzimmer standen leer, und die Hotelbetreiber verdienten nichts an ihnen. Deshalb wandelte man etliche Pensionen und Hotels in Alters- und Obdachlosenheime um. In Atlantic City gab es ohnehin zu wenige soziale Einrichtungen, vor allem für die arme Bevölkerung. Die neuen Mieter zahlten zwar deutlich weniger als die Touristen, aber immerhin waren die Hotels jetzt wieder rund ums Jahr belegt. Durch die Anwesenheit dieser neuen, aber wenig zahlungskräftigen Mieterschaft wurden die Hotels zwar instand gehalten, das aber auf niedrigstem Niveau. Einstmals farbenfrohe und ausgelassene Orte wirkten jetzt schäbig und heruntergekommen. Die alten Gebäude und die neuen Bewohner waren Teil eines gleichen Trauerspiels.
Doch nicht nur die Gebäude bröckelten, auch die Einwohnerzahl. Vor allem die weiße Bevölkerung verließ zusehends die Stadt: Die Anzahl der wegziehenden Weißen verdoppelte sich alle zehn Jahre, und zwischen 1940 und 1970 verringerte sich der Anteil der weißen Bevölkerung von achtzig auf fünfzig Prozent. Im selben Zeitrahmen sank die Einwohnerzahl von 6 4 094 auf 4 7 859. In den 60er-Jahren büßte die Stadt ein Drittel ihrer weißen Bevölkerung ein. Dieser Exodus war folgenschwer für die Tourismusindustrie. Die Weißen ließen ihre Geschäfte zurück, aber nahmen ihr Geld mit, sodass vor allem schwarze ungelernte Arbeiter übrig blieben.
Das wirtschaftliche Wohlergehen der afroamerikanischen Gemeinde war immer schon vom Erfolg des Tourismus bestimmt gewesen. Ihr einziges Kapital war
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