Bob, der Streuner
Möglichkeiten: Mandelentzündung, Diabetes, Katzenleukämie, Dickdarmkatarrh, Bleivergiftung, Salmonellen. Mir wurde mulmig. Am schlimmsten aber war die Seite, auf der stand, dass Bobs Zustand ein frühes Anzeichen von Darmkrebs sein könnte.
Nach einer Viertelstunde vor dem Computer war ich ein Nervenbündel. Das alles half mir nicht im Geringsten weiter. Also suchte ich nach Behandlungstipps. Das war viel besser. Übereinstimmend rieten die meisten Internetseiten: viel Wasser, Ruhe und ständige Beobachtung. Das konnte ich die nächsten achtundvierzig Stunden durchziehen. Ich nahm mir vor, Bob rund um die Uhr nicht aus den Augen lassen. Sollte er sich noch einmal übergeben, würde ich ihn sofort zum nächsten Tierarzt bringen. Falls nicht, würde ich am Donnerstag auf jeden Fall mit ihm zum Blue Cross gehen.
Am nächsten Tag blieb ich bis spät nachmittags zu Hause, damit Bob sich ausruhen konnte. Zusammengerollt auf seinem Lieblingsplatz, schlief er wie ein Stein. Ich wollte ihn nicht allein lassen, aber sein Zustand hatte sich nicht verschlechtert, und der Genesungsschlaf war wichtig. Also verließ ich leise die Wohnung, um wenigstens ein paar Stunden zu arbeiten. Ich hatte keine andere Wahl.
Auf dem Weg von der Bushaltestelle nach Covent Garden fiel mir auf, dass ich wieder unsichtbar war. Als ich an meiner Verkaufsstelle anfing, The Big Issue anzupreisen, wurde ich dauernd gefragt: »Wo ist Bob?« Über meine Auskunft, dass er krank sei, waren alle sehr betroffen und löcherten mich mit weiteren Fragen: »Er wird aber wieder, oder?« – »Ist es sehr schlimm?« – »Waren Sie schon beim Tierarzt mit ihm?« – »Sollten Sie nicht bei ihm sein?«
Auf einmal fiel mir ein, dass ich eine Tierarzt-Helferin kannte. Sie hieß Rosemarie, und ihr Freund Steve arbeitete in einem Comicbuchladen ganz in der Nähe. Bob und ich waren oft dort und hatten uns mit Steve ein bisschen angefreundet. So haben wir auch seine Freundin Rosemarie kennengelernt, die alles über Bob wissen wollte und mich mit Fragen löcherte.
Ich machte sofort einen Abstecher in den Comicbuchladen. Steve war tatsächlich da und gab mir sofort Rosemaries Telefonnummer. »Du kannst sie gleich anrufen«, versicherte er mir. »Sie wird sich freuen, Bob zu helfen. Er hat es ihr wirklich angetan.«
Zum Glück erreichte ich sie gleich, und sie stellte mir viele Fragen.
»Was für Futter bekommt er? Frisst er auch andere Sachen, wenn er draußen rumstrolcht?«
»Na ja, er durchwühlt mit Wonne die Müllcontainer hinter unserem Haus.«
Leider hatte er diese schlechte Gewohnheit nie aufgegeben; in dieser Hinsicht war er unbelehrbar. Wenn ich eine volle Mülltüte in der Küche vergaß, zerfledderte er sie in Sekunden. Ich musste immer darauf achten, sie sofort auf den Gang vor die Wohnungstür zu stellen, wenn ich sie erst am nächsten Morgen mit nach unten nehmen wollte. Das war seine wilde Seite. Man kann einen Kater von der Straße holen, aber die Überlebensstrategien der Straße kann man ihm nicht austreiben.
»Hmmm«, hörte ich sie sagen. »Das erklärt vieles.« Ihre Stimme klang, als wäre ihr gerade ein Licht aufgegangen. Sie nannte mir eine Darmkur mit probiotischen Bakterien, Antibiotika und einen Saft, der seinen Magen beruhigen sollte.
»Gib mir deine Adresse«, forderte sie mich auf. »Ich lasse dir die Medikamente von einem Fahrradkurier zustellen.«
Ich fühlte mich überrannt. »Oh, Rosemarie, es tut mir leid, aber ich glaube, dass ich mir all die Medikamente gar nicht leisten kann«, stotterte ich verlegen.
»Keine Panik, James, es kostet dich gar nichts. Nicht einmal der Lieferservice. Wir müssen heute noch etwas in deiner Gegend ausliefern, und ich gebe Bobs Zeug einfach dazu! Bist du heute Abend zu Hause?«
»Ja, klar!«, brachte ich mühsam hervor.
Ich war total überwältigt. Eine derartige Fürsorge war mir in all den Jahren auf der Straße noch nie begegnet. Willkürliche Gewalt, ja – Nächstenliebe, nein. Das war eine der größten Veränderungen, die Bob mit sich brachte. Dank ihm habe ich das Gute im Menschen wieder entdeckt. Er hat mir den Mut zurückgegeben, Fremden zu vertrauen und an sie zu glauben.
Rosemarie jedenfalls hielt Wort. Nicht, dass ich daran gezweifelt hätte. Der Fahrradkurier stand schon am Spätnachmittag vor meiner Wohnungstür, und ich verabreichte Bob sofort seine erste Dosis Medizin.
Der probiotische Darmsaft schmeckte ihm gar nicht. Als ich ihm einen Löffel voll einflößte, verzog er
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