Bob, der Streuner
Grundstückes wurde von einem Bach gezogen. Was für ein friedlicher, malerischer Ort! Perfekt zum Entspannen, Erholen und Auftanken neuer Energie. Schon nach zwei Wochen fühlte ich mich wie neugeboren. All die Sorgen ums tägliche Überleben, die mich in London quälten, waren buchstäblich Tausende von Kilometer weit weg, genauer gesagt über 16 000. Meine Mutter überhäufte mich mit mütterlicher Fürsorge und ihren Kochkünsten. Ich spürte förmlich, wie ich zu Kräften kam. Und wie meine Mutter und ich uns wieder näherkamen.
Anfangs führten wir keine tiefschürfenden Gespräche. Sie ließ mir Zeit, bis ich langsam gesprächiger wurde. Eines Abends saßen wir auf der Terrasse und genossen den Sonnenuntergang. Ich hatte schon etwas getrunken, und auf einmal sprudelte alles aus mir heraus. Es war keine überschwängliche Beichte und auch keine hollywoodreife Geschichte, aber ich redete … und redete … ohne Punkt und Komma.
Im Nachhinein hätte ich wissen müssen, dass ein solcher seelischer Dammbruch schon lange fällig war. Ich hatte jahrelang Drogen genommen, um meine Gefühle zu unterdrücken. Mehr noch, ich wollte sie abtöten, sichergehen, keine Gefühle zu haben. Aber seit Bob sich in mein Herz geschlichen hatte, hatte sich mein Gemütszustand langsam verändert. Ich konnte Gefühle wieder zulassen.
Meine Mutter starrte mich fassungslos an, als ich ihr ein paar Tiefpunkte der letzten Jahre in London schilderte. »Als ich dich am Flughafen sah, habe mir schon gedacht, dass es dir nicht besonders gut geht, aber ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm ist«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen.
Während ich weiterredete, stützte sie immer wieder ihren Kopf in die Hände, brachte aber nie mehr heraus als: »Warum?«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du deinen Pass verloren hast?«
»Warum hast du mich nicht angerufen und um Hilfe gebeten?«
»Warum hast du deinen Vater nicht angerufen?«
Am Ende gab sie sich selbst die Schuld an meinem verpfuschten Leben. Sie hatte das Gefühl, mich im Stich gelassen zu haben, aber ich versicherte ihr, dass dies nicht der Fall war. Nur ich allein war schuld an meiner Misere. »Du hast nicht für mich entschieden, in Pappkartons zu schlafen und meine Nächte mit Heroin zu verbringen. Es war allein meine Entscheidung!« Ich wollte mit dieser Aussage erreichen, dass sie sich besser fühlte, aber es brachte sie zum Weinen.
Nachdem das Eis gebrochen war, konnten wir über alles reden. Auch über die Vergangenheit und meine Kindheit in Australien und England. Unsere neue Vertrauensbasis erlaubte mir, ganz ehrlich mit ihr zu reden. Ich konnte ihr vorwerfen, dass sie in meiner Kindheit nur ein unnahbarer Schatten gewesen war und dass die Kindermädchen und die vielen Umzüge mir auf lange Sicht nicht sehr gutgetan hatten.
Sie fiel aus allen Wolken, aber sie widersprach mir und erklärte – ob zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt –, sie habe schließlich für unser Einkommen und ein Dach über dem Kopf sorgen müssen. Ich verstand ihren Einwand, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich mir immer gewünscht hatte, sie wäre mehr für mich da gewesen.
Aber nicht alle unsere Gespräche waren so ernst. Wir konnten auch viel miteinander lachen. Wir lernten uns neu kennen, fanden heraus, wie ähnlich wir uns waren, und amüsierten uns über die vielen Auseinandersetzungen, die wir im Laufe meiner Pubertät gehabt hatten.
Sie gab zu, dass unsere damaligen Konflikte sehr viel mit unser beider Ego zu tun hatten. »Wir sind beide sehr starke Persönlichkeiten. Du hast das von mir«, versuchte meine Mutter unsere Kämpfe von damals zu erklären.
Aber die meiste Zeit redeten wir über die Gegenwart. Sie wollte alles über meinen Drogenentzug wissen und welche Ziele ich mir für meine Zukunft gesetzt hatte. Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich immer noch einen Schritt nach dem anderen machen musste, aber hoffentlich im neuen Jahr endlich clean sein würde. Manchmal hörte sie einfach nur zu. Das konnte sie früher nicht besonders gut. Aber auch ich habe zuhören gelernt. Ich glaube, wir haben uns in diesem Urlaub erst richtig kennengelernt. Endlich konnte ich die lange aufgestauten Aggressionen gegen meine Mutter begraben. Ich hatte erkannt, dass unsere Kämpfe in meiner Jugend nur stattfanden, weil wir den gleichen Dickschädel hatten.
Natürlich erzählte ich auch sehr viel von Bob. Ich hatte ein Foto von ihm dabei, das ich jedem unter die
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