Bob und wie er die Welt sieht
Kunden.
»Könnte ich vielleicht eine von diesen Tüten haben?«, fragte ich.
»Ja, klar«, war ihre Antwort, und dann fügte sie kleinlaut hinzu: »Die kosten fünf Cent.«
»Okay, ich nehme eine. Haben Sie vielleicht eine Schere für mich?«
»Eine Schere?«
»Ja, ich will ein Loch hineinschneiden.«
Jetzt sah sie mich an, als wäre ich wirklich verrückt. Aber sie griff unter ihren Ladentisch und gab mir eine kleine Schere.
»Perfekt«, dankte ich ihr.
Ich schnappte mir das geschlossene Ende der Tüte und schnitt einen kleinen Halbkreis in der ungefähren Größe von Bobs Kopf aus. Dann öffnete ich die Tüte und stülpte sie über seinen Kopf. Der improvisierte Poncho saß wie maßgeschneidert und bedeckte seinen Körper sowie seine Beine, genau so, wie ich mir das vorgestellt hatte.
»Ah, jetzt verstehe ich«, rief die Verkäuferin und lachte. »Sehr clever. Das müsste gehen.«
Wir brauchten eine Viertelstunde bis zu unserem Verkaufsplatz am U-Bahnhof Angel. Auf dem Weg dahin ernteten wir den einen oder anderen ungläubigen Blick, aber die meisten Passanten waren zu sehr damit beschäftigt, sich selbst in dem Schneegestöber zurechtzufinden.
An einen Verkauf der Big Issue draußen vor dem U-Bahnhof war nicht zu denken. Die Bürgersteige waren voller Schneematsch. Ich stellte mich also mit den anderen Passanten in der nächsten Unterführung unter.
Ich wollte Bob keine Minute länger als nötig dieser Kälte aussetzen und legte mich richtig ins Zeug, um meine Zeitschriften zu verkaufen. Zum Glück hatten viele Leute Mitleid mit uns, und mein Stapel Zeitungen wurde schnell kleiner.
Am Spätnachmittag hatte ich genug Geld eingenommen, um uns ein bis zwei Tage über Wasser zu halten. Bei diesem Wetter war Geld für Gas und Strom das Wichtigste.
»Jetzt müssen wir nur noch nach Hause kommen«, sagte ich zu Bob, als wir uns auf den Weg zur Bushaltestelle gegen den Wind stemmten.
Als wir endlich im warmen Bus saßen, dachte ich nur: Es muss einen einfacheren Weg geben, uns finanziell über Wasser zu halten.
Geld verdienen war so schwer geworden, seit die Kluft zwischen denen mit und ohne Geld immer größer wurde. Bei meiner Arbeit auf den Straßen von London traf ich immer wieder auf Menschen, die in einer anderen Welt lebten, obwohl wir in einer Stadt wohnten. Ein paar Tage später wurde ich daran wieder schmerzlich erinnert.
Da stand ich eines Mittags mit Bob auf meiner Schulter genau vor dem Eingang der U-Bahn-Station Angel. Deshalb bemerkte ich den kleinen Aufruhr an den Ticket-Kontrollschranken, wo die Passagiere, die aus den U-Bahnschächten herauskommen, ihre Fahrscheine durchziehen müssen. Eine Gruppe von Leuten diskutierte lautstark mit den Aufsehern an den Schranken. Am Ende durften sie offenbar ohne Bezahlung passieren.
Den großen, etwas schmuddelig aussehenden Blonden in der Gruppe erkannte ich sofort. Es war der Bürgermeister von London, Boris Johnson. Er hatte einen Jungen dabei, wahrscheinlich seinen Sohn, und ein paar gut gekleidete Mitarbeiter. Sie kamen genau auf den Ausgang zu, wo ich mit meinen Zeitungen stand.
Mir blieb keine Zeit zum Nachdenken, also tat ich, was ich immer tue. »Wie wäre es mit einer Big Issue , Boris?«, fragte ich und hielt dabei eine Zeitschrift hoch.
Damit brachte ich ihn etwas aus der Fassung, auf so ein Angebot war er wohl nicht vorbereitet.
»Ich habe es ein bisschen eilig«, nuschelte er. »Einen Moment.«
Dabei steckte er seine Hand in die Hosentasche und holte einen ganzen Berg von Münzen hervor. Die drückte er mir einfach in die Hände.
»Hier. Die sind mehr wert als englische Pfund«, sagte er.
In dem Moment wusste ich nicht, was er damit meinte, aber ich bedankte mich höflich.
»Danke, dass sie Bob und mich unterstützen«, sagte ich und händigte ihm seine Zeitschrift aus.
Er nahm sie entgegen, lächelte und machte eine Kopfbewegung Richtung Bob. »Schöne Katze haben Sie da.«
»Ja, er ist ein Star, er hat sogar seine eigene Fahrkarte für die Londoner Verkehrsbetriebe«, gab ich zur Antwort.
»Ist ja unglaublich«, gab er verblüfft zurück, bevor er mit seinem Gefolge weiter Richtung Islington Green lief. »Viel Glück, Boris«, rief ich ihm noch nach.
Als er mir die Münzen in die Hand gedrückt hatte, wollte ich nicht so unhöflich sein und sie zählen. Außerdem fühlten sich Menge und Gewicht an, als hätte er mir weit mehr gegeben, als die Zeitschrift kostete.
»Das war aber sehr großzügig von unserem
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