Bockmist
Das hatte ich Francisco versprochen. Das hatte ich allen versprochen.
Langsam drücken. Nie durchziehen. Drück so langsam und liebevoll ab, wie du kannst.
19
Good evening.
This is the nine o’clock news from the BBC.
PETER SISSONS
Auf meinen Vorschlag hin blieben wir noch sechsunddreißig Stunden in Murren.
Ich hatte Francisco darauf hingewiesen, daß man als allererstes die abfahrenden Züge kontrollieren würde. Jeden, der in den ersten zwölf Stunden nach dem Anschlag abreiste oder abreisen wollte, würde man gehörig in die Zange nehmen, ob er nun schuldig war oder nicht.
Francisco hatte einige Zeit auf seiner Lippe herumgekaut und dann beifällig gelächelt. Im Dorf zu bleiben, war für ihn vermutlich die coolere, waghalsigere Alternative, und Coolness und Wagemut waren Eigenschaften, die Francisco definitiv in Verbindung mit seinem Namen in einem Newsweek -Portrait sehen wollte. Mürrischer Blick in die Kamera, darunter die Unterschrift: Francisco: cool und waghalsig. So in etwa.
Ich dagegen wollte in Murren bleiben, damit ich Gelegenheit bekam, Solomon zu sprechen, aber ich dachte, es sei vielleicht klüger, Francisco nichts davon zu erzählen.
Also vertrieb sich jeder auf seine Weise die Zeit und mischte sich unter die Schaulustigen, als die Hubschrauber eintrafen. Erst die Polizei, dann das Rote Kreuz, schließlich die unvermeidlichen Fernsehteams. Der Anschlag hatte sich in Windeseile im Dorf herumgesprochen, aber die meisten Touristen waren viel zu erschrocken, um ihn aufs Tapet zu bringen. Sie liefen ziellos hin und her, guckten finster in die Gegend und ließen ihre Kinder nicht aus den Augen.
Die Schweizer saßen in den Kneipen und flüsterten miteinander; entweder hatten sie ebenfalls Angst, oder sie machten sich Sorgen ums Geschäft. Schwer zu sagen. Zur Sorge bestand natürlich kein Grund. Bei Einbruch der Nacht waren die Bars und Restaurants gerammelt voll. Niemand wollte eine Meinung, ein Gerücht oder einen Interpretationsfetzen verpassen, der sich an dieses gräßliche Blutbad anknüpfen ließ.
Zunächst gab man den Irakern die Schuld; das scheint heutzutage das Standardverfahren zu sein. Diese Theorie konnte sich eine gute Stunde lang halten, bis die ersten Schlaumeier anmerkten, daß es keine Iraker gewesen sein konnten, weil sie im Dorf sofort aufgefallen wären. Akzent, Hautfarbe, Hinknien und Ausrichtung nach Mekka. So etwas entging keinem durchschnittlich gewitzten Schweizer.
Danach kam ein durchgeknallter Fünfkämpfer an die Reihe; erschöpft von dreißig Kilometern Querfeldeinlauf kommt der Mann ins Stolpern, schlägt lang hin, aus seinem .22er Gewehr löst sich ein Schuß und tötet Herrn van der Hoeve in einem Unfall von astronomischer Unwahrscheinlichkeit. Trotz ihrer Ausgefallenheit fand diese Theorie ringsum Unterstützung; vor allem, weil dann keine böse Absicht im Spiel war, und die Schweizer wollten auf gar keinen Fall, daß krimineller Vorsatz in ihrem Wintersportparadies sein Haupt erhob.
Eine Zeitlang taten sich die beiden Gerüchte zusammen und gebaren dann ein wahrhaft abstruses Fabelwesen: Es war ein irakischer Fünfkämpfer, sagten die tumben Toren. Gelb vor Neid über den Erfolg der Skandinavier bei den letzten Olympischen Winterspielen war ein irakischer Fünfkämpfer Amok gelaufen (jemand kannte jemanden, der den Namen Mustafa gehört haben wolle); übrigens war er wahrscheinlich immer noch da draußen und pirschte auf der Suche nach großen blonden Skiläufern über den Berg.
Und dann trat Flaute ein. Die Bars leerten sich, die Cafés schlossen, und die Kellner sahen sich verblüfft an, weil sie ein unberührtes Gericht nach dem anderen abtrugen.
Auch ich brauchte einige Zeit, um herauszufinden, was dahintersteckte.
Da die meisten im Städtchen kursierenden Erklärungen die Touristen nicht zufriedenstellten, zogen diese sich in ihre Hotelzimmer zurück und knieten einzeln oder paarweise vor dem allmächtigen und allwissenden CNN. Dessen Mann vor Ort, Tom Hamilton, ließ die Welt schon beim Schließen der Zimmertür in den Genuß der »Allerletzten Berichte« kommen, »eben eingetroffen«.
Latifa und ich hatten uns, bedrängt von einem Dutzend angetrunkener Deutscher, vor dem Fernsehgerät der Bar Zum Wilden Hirsch eingefunden und verfolgten, wie Tom seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, »daß dieser Mord das Werk von Aktivisten war« – und für so was bekommt Tom um die 200.000 Dollar im Jahr, schätze ich. Ich hätte ihn ja zu gern
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